Maike Stein
In dieser Zeit
Sie passte nicht mehr in diese Gesellschaft. Wurde ausgespuckt. Abgestempelt. Ging jeden Monat auf das Amt, wo ihr ihre Überflüssigkeit bestätigt wurde. Immer aufs Neue. An allen Reformen vorbei.
Sie suchte nicht mehr. Das Hoffen hatte sie aufgegeben. Es ging nicht mehr. Für die Stellenanzeigen war sie zu alt, für die Rente zu jung.
Immer dieses Gefühl, sie verdiene gar nicht, was sie staatlicherseits bekam. Sie arbeitete. Gemeinnützig. Das war ja das Verrückte: Arbeit gab es genug. Nur bezahlen wollte sie keiner.
Ständig die Unsicherheit. Was sollte sie schon sagen, wenn andere von ihren Karrieren erzählten. Sie hasste Vorstellungsrunden: ich heiße... ich bin... Was war sie schon noch? Randgetier, das neben dem Tisch saß. Bettelte.
Wenn sie durch die Straßen irrte, sah sie überall ihr Gesicht: schlecht kaschierte Verzweiflung. Durchsichtig.
Sie ertrug keine Nachrichten mehr, hatte den Fernseher ausgestöpselt, das Radio in den Keller gestellt. Mit Bekannten gingen ihr die Gesprächsthemen aus. Sie wollte die Wiederholungen nicht mehr.
Es gab Tage, an denen sie die Wohnung nicht verließ. Das Telefon klingelte nie. Nur Stille.
Einmal klopfte es an der Tür.
Sie öffnete nicht.
Stefan Welke
Seit Ewigkeiten
Gedanken
tropfen
in die Zeit,
bestehen,
vergehen,
unbesehen.
Aus ihrer Fülle
sprießen
Ideen.
Einige zart,
andere unbequem.
Fließen durch Träume,
süchtig nach Leben.
Das Eine
Im Gedränge
verloren.
Unter Fluchen
begonnen
zu suchen.
Momente später
wieder vereint.
Doch eines
bleibt rätselhaft mir.
Der Kerl wartete,
lässig gelehnt
an eine Mauer,
auf mein atemloses Erscheinen.
Regina Seidel
Lange Tage
Der alte Mann schaute auf die Uhr. Erst Viertel vor sieben. Viel zu früh zum Aufstehen. Draußen war es noch dunkel. Er hörte den Regen auf die Fensterscheiben prasseln. Gern hätte er sich noch einmal umgedreht, den Tagesbeginn ein wenig hinauszögert, aber die Blase forderte dringlich ihre Entleerung.
Mühsam richtete er sich auf und schob die Beine unter der Bettdecke hervor, tastete blind nach seinen Latschen. Dann mit Schwung in die Senkrechte, aber nicht zu heftig, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Besonders morgens wurde ihm schnell schwindlig.
Nach dem Toilettengang warf er sich kaltes Wasser ins Gesicht, fuhr mit feuchten Fingern durchs Haar, spülte das Gebiss, das die Nacht in Kukident verbracht hatte und schob es in den Mund.
Langsam schlurfte er ins Wohnzimmer, stellte den Raumthermostat der Heizung ein wenig höher; dann weiter ins Esszimmer. Er schaute eine Weile in die regenschwere Trübnis des Morgens. Ein Blick aufs Thermometer, zwei Grad unter Null, ziemlich ungemütlich. Der Frühling ließ auf sich warten. Tagsüber roch es manchmal schon danach, aber der Winter wollte und wollte nicht gehen.
Vom Esszimmer zurück ins Schlafzimmer, anziehen, lüften. Das Bett würde er nach dem Frühstück richten. Bevor er in die Küche ging, um den Tee zuzubereiten und sich eine Scheibe Brot zu schmieren, stieg er schwer atmend die drei Treppen hinunter. Vielleicht lag außer der Zeitung auch ein Brötchen vor der Tür, manchmal brachte die Nachbarin eins mit. Nein, kein Brötchen, also doch Brot zum Frühstück. Die Zeitung musste er erstmal auf die Heizung legen. Bis er gefrühstückt und das Bett gemacht hatte, wäre sie wieder trocken.
Wie dunkel es noch war. Mittlerweile war der Zeiger der Uhr auf halb acht gerückt, wirklich noch verdammt früh. Ein langer Tag lag vor ihm. Es gab so wenig zu tun.
Sie hatte immer etwas zu tun gehabt. Wenn er nach dem Frühstück im Wohnzimmer saß und die Zeitung las, hörte er sie herumrumoren. Irgendwann kam sie dann, setzte sich zu ihm. Dann unterhielten sie sich ein bisschen, bis sie wieder in der Küche verschwand, um das Mittagessen zuzubereiten.
Die erste Zeit hatte er immer wieder gelauscht, gehofft, dass sie käme. Sogar jetzt noch war er manchmal versucht, aufzustehen, um nach ihr zu schauen.
„Komm, mach doch mal Pause und rauch eine“, hatte er dann immer zu ihr gesagt, wenn es ihm zu lange dauerte, bis sie von selbst kam. Obwohl er den Rauch nicht mehr gut vertragen konnte. Aber er hatte es gern gehabt, wenn sie bei ihm saß und mit ihm redete.
Es war so still in der Wohnung, seit sie nicht mehr da war. Die Stille war das Schlimmste - und die Einsamkeit. Die Tage zogen sich endlos dahin, wenig unterbrach ihre Eintönigkeit. Tagtäglich die gleichen Wege, die gleichen Verrichtungen. Aufstehen, frühstücken, Zeitung lesen. Irgendwann kam das Essen. Auch immer so früh. Er ließ es meist noch eine Weile stehen. Oft war es lauwarm, wenn er es aß. Manchmal machte er sich auch selber was. Einfache Sachen, mehr konnte er ja nicht. Kochen, das war ihre Sache gewesen.
Nirgends hatte es ihm so gut geschmeckt, wie bei ihr. Sogar als es ihr schon so schlecht ging und sie selber kaum noch etwas aß, hatte sie für ihn gekocht. Und manchmal hatte er sich fast geschämt, dass es ihm so gut schmeckte, während sie wie ein Vögelchen im Essen herumpickte, das Bisschen, was sie aß, meist wieder von sich gab.
Nur Haut und Knochen war sie irgendwann, aber immer noch schön in seinen Augen. In dem ausgezehrten, so schnell alternden Gesicht sah er das Antlitz der jungen Frau, von der er bei der ersten Begegnung schon wusste, dass sie die Richtige war. Und nun war sie nicht mehr da, hatte ihn zurückgelassen in der Stille und der Einsamkeit.
Er faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Die Blumen mussten gegossen werden. Wahrscheinlich war auch die Wäsche schon trocken, die er gestern aufgehängt hatte. Die Hemden konnte er gleich bügeln, damit ließe sich ein wenig Zeit füllen.
„Da staunst du, wie gut ich mittlerweile bügeln kann, was?“, sagte er zu ihrem Bild. „Natürlich nicht so gut wie du“, fügte er hinzu, „aber immerhin.“
Nach dem Essen legte er sich aufs Sofa, um seinen Mittagsschlaf zu halten. Auf seine innere Uhr konnte er sich verlassen. Nach einer knappen Stunde stand er auf, kochte Kaffee, wie immer.
Wenn das Wetter es zuließ, hatten sie nach dem Kaffeetrinken immer einen Spaziergang gemacht. Oder in der Laube gesessen. Nun ging er allein. Manchmal besuchte er Bekannte und Freunde. Es waren nicht mehr viele. Einer nach dem andern verabschiedete sich aus diesem Leben.
Abends dann die Frühnachrichten, Abendbrot, wieder Nachrichten, irgendein Film, dazwischen ein Telefonat mit der Tochter. Im Bett las er noch ein paar Seiten, bis ihm die Augen zufielen.
Wenn er das Licht löschte, wurde er oft wieder wach. Dann kamen die Gedanken und ließen ihn nicht schlafen. Er lauschte in die Dunkelheit - nach ihrem Atem.