Ausschnitte aus dem Tintenschiffheft Was zurück bleibt
Berliner S-Bahn Geschichten



aus STILLSTAND

     von Ralf Pfennig


Adrian steigt mit vielen anderen Fahrgästen am Westkreuz auf dem unteren Bahnsteig ankommend aus der S-Bahn der Linie 7 aus. Die Leute drängen zur Treppe, eilen hinauf. Ihm kommt sein Gedicht in den Sinn, dass er letztens schrieb:

WESTKREUZ

(KANN AUCH OSTKREUZ SEIN)

Schnelle Schritte

Eilende Menschen

Ausweichende Blicke

Versehentliche Berührungen

Er versteht gar nicht, dass es der Chefredakteur nicht abdrucken wollte. Es hätte ihm nicht einmal 10 Euro gekostet! Es passt doch wie die Faust aufs Auge, findet Adrian. Dabei hatte er sich für den Redakteur extra einen neuen Titel einfallen lassen.




aus VERSUCHUNG

     von Maike Stein


Die Bahn hielt, und Jay stolperte aus der Tür. Sie rang nach Luft. Ihr war schwindelig. Ihr Atem beruhigte sich erst, als die S-Bahn abfuhr, und sich unausweichlich von ihr entfernte.

Wieso hatte sie das getan?

Wo war sie überhaupt?

Beusselstraße.

Sie musste auf die nächste Bahn warten. Jay schaute auf die Uhr. Sie würde mal wieder zu spät zur Probe kommen. Sophie anrufen. Besser, sie schrieb ihr eine SMS. Jay war sich ihrer Stimme nicht sicher.

Sie tippte die Nachricht zusammen, es dauerte länger als gewöhnlich, weil ihre Finger zitterten. Das war so albern! Sie hatte eine schöne, schlafende Frau in der S-Bahn gesehen und sie gezeichnet. Nichts besonderes. Gut, sie hatte ihr die Zeichnung geschenkt. Und das war das Ende der Geschichte. Fast. Sie hatte ihre Handynummer auf die Rückseite des Zeichenblattes geschrieben.

Und wenn die Frau jetzt aufwachte? Was, wenn sie tatsächlich anrief?




aus FREUNDE DER MUSIK

     von Regina Sander


Quääk dum dum...

Ich sehe wieder zu ihm hinüber. Er grinst mich blöde an. Ich frage mich, wer von uns beiden nun eine Vollmeise hat. Doch wohl er, oder? Also ich lasse mich nicht provozieren.

„Voll krasse Musik ey, wa? Voll geil ey, wa?“

Ich äffe ihm nach, gestikuliere dabei jede Silbe: „Voll krasse Musik ey, wa?

Ich spüre, wie etwas in mir ganz langsam hochkocht. Quääk dum dum... Qääk dum dum...

Mittlerweile steuern wir den Bahnhof Neukölln an. Da werden bestimmt noch mehr Ohrstöpsel einsteigen, denke ich grimmig. Immer diese in Horden auftretenden sich laut artikulierenden Jugendlichen.

Quääk dum dum... Qääk dum dum...

Die Bahn geht in eine Kurve, und ich sehe Neuköllns Mietskasernen, dazwischen eine Kneipe. Spielothek lese ich, und Penny Markt. Alte verwaschene Schnapswerbung an der Hauswand, an der der Putz abbröckelt.

Jetzt fühlt er sich schon angesprochen, obwohl ich ihn nur angesehen habe. „Ey Alte, haste`n Problem?“





aus BAHNHOF VERSTEHEN

     von Marcel Schock


An der Station Westend stürmte ein telefonierender Dreißigjähriger in den Waggon. Er stellte sich gegenüber des Eingangs in die Türnische. Kam aber, während der längeren Dauer des Gesprächs, wiederholt in den Bereich des Mittelgangs, dass auch alle etwas von den spektakulären Ereignissen mitbekamen, die sich gerade in seinem Leben zugetragen hatten. Es ging um einen Umzug, den er gerade hinter sich gebracht hatte “und gar nicht so schlimm gewesen war. Nein, ach was...!” Er betonte wiederholt, dass es “ja ruckzuck ging und jetzt zu Hause erst einmal geduscht werden müsste”. Danach wolle er sich THE THIN RED LINE von Terrence Malick anschauen. Er habe ihn ausgeliehen und seit einer Woche einen Beamer an der Decke hängen, der ausprobiert werden müßte.

Als er sein fernmündliches Ende gefunden hatte, stand ich auf und ging zu ihm hinüber. Ich stellte mich vor und erzählte, dass ich den ersten Film von Malick – BADLANDS - sehr schätze und schon immer dessen vorletzten sehen wollte. Er sah mich entsetzt an. Ich befragte ihn nach dem amerikanischen Kriegsfilm, von dem er gerade gesprochen hatte. Er staunte noch immer, aber als ich Sean Penn, Adrien Brody und Kameramann John Toll erwähnte, rutschte er langsam in die Wörter hinein. Ich lies ihn machen, gab ihm Raum, fragte nach und bestätigte ihn mehrere Male. Maverick Malick und sein Oeuvre wurde zu etwas Verbindendem. Ich bot an, eine Flasche ENTRE-DEUX-MERS zu besorgen...... “und dazu vielleicht noch einen Kasten Käsestangen?”






aus EINATMEN

     von Sylvia Eulitz


Aus halbgeschlossenen Augen betrachtete sie das schwerelose Dahingleiten der beiden großen Vögel. Lautlos schwebten sie, einer anderen, belebteren Welt zugehörig, einer Welt, die sie aus dem Fenster der dahineilenden S-Bahn nur erahnen konnte.

Sie schloss die Augen und überließ sich den vollendeten Klavierklängen Ravels, die sich sanft in ihrem Körper ausbreiteten und ihre Müdigkeit in eine angenehme Mattigkeit verwandelten.

Traumverloren beobachtete sie weiterhin das Schweben der großen schwarzen Vögle und der Gedanke kam ihr, wie es wohl wäre, ebenso frei und ungebunden in der Luft fliegen zu.

Wie es wohl wäre, nur einen kurzen Moment miteinander zu verbringen.

Der nächste Bahnhof „Witzleben/Messe Nord“ nahte, hielt neben ihr und verschwand wieder ins Nichts der Abenddämmerung.

Wieder rasten die Gleise, Bäume und Silhouetten von Häusern, Straßen und Autos an ihr vorbei, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Die Vögel waren inzwischen verschwunden.




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