Berk Bergen
100 JAHRE UND KEIN BIßCHEN WEISER....
Wenige Tage vor meinem 101. Geburtstag schleppte ich mich in dem mir schon seit Jahrzehnten vertrauten Zustand - nämlich geistiger Verwirrung - die Treppe zur U-Bahn hinunter. Es war lange nach Mitternacht, der vollautomatische, zu dieser Zeit und an dieser Station menschenleere Zug war bereits eingefahren. Ich humpelte zum letzten Wagen, als sich die Türen auf automatisches Signal schlossen und die Geisterbahn anfuhr. Mit letzter Kraft hebelte ich mit meiner Krücke die Tür auf, klemmte meinen Fuß in den Türspalt und klammerte mich an den fahrenden Zug.
Das ging so lange gut, bis mich das am Ende des Bahnsteigs befindliche Sperrgitter unsensibel bremste, so dass ich wohl einige Stunden lang bewußtlos auf dem Boden gelegen haben mag, als mich ein durchdringendes Geräusch aufweckte. Auf allen Vieren, die Krücke in der Hand, kroch ich auf die hintere Ausgangstreppe zu. Von dort musste das Geräusch gekommen sein. Benommen zog ich mich mühsam von Stufe zu Stufe nach oben, bis mich die Kräfte verließen und ich einige Stufen zurück stürzte.
Dort mag ich wiederum einige Zeit kopfüber gelegen haben, als mich ein gewaltiger Aufschrei in meiner Nähe erschrecken ließ. Ich konnte es nicht glauben, blickte starr in die Richtung des Bahnsteiges:
Unterhalb von mir auf derselben Treppe lag ein Mann - ich musste ihn beim Hinaufkriechen übersehen haben -, ein elend langes Ende von Mensch, genauso lädiert wie ich. Er sah in der Mitte wie durchgebrochen aus.
„Du auch?” stöhnte ich. Er nickte und lächelte verzerrt, sichtbar von Schmerzen geplagt. „Diese verdammte Automatik!” stieß er hervor.
Ich reichte ihm die Krücke und zog ihn langsam zu mir heran. Er mochte einige Jahre älter sein als ich, sah aber noch wie ein fast junger Mann aus. Irgendetwas interessierte mich an diesem merkwürdigem, leicht exaltiert wirkenden Typ, so verletzt, vielleicht verletztlich, er immer erscheinen mochte. Meine geistige Verwirrung war wie weggeblasen, ich steigerte mich in eine Faszination hinein für einen Menschen, der mich früher, in den hundert Jahren zuvor, überhaupt nichts angegangen wäre.
Gleichwohl überschätzte ich mich, glaubte plötzlich hundert Jahre nachholen zu können, während mich doch meine Erfahrungen, meine Erlebnisse, meine kümmerlichen Erkenntnisse banden an das Leben, das ich bisher geführt hatte.
„Bleib auf dem Teppich”, dachte ich bei mir, „lass dich nicht auf diesen Typen ein!”
Und als wollte er meine Gedanken fortsetzen, begann er mit leiser, immer wieder stockender Stimme zu reden:
„Oberraunzer mein Name - kam gestern vom kreativ-literarischen Höhenflug - hatte mich danach vollgesoffen - um meine mich selbst immer wieder überwältigende Gedankenfülle ertragen zu können - bin im Gegensatz zu allen anderen nicht nur ein großer Mensch - sondern auch ein großer Schriftsteller - der seine festgefahrenen Ansichten - anschaulich zu Papier bringen kann...”
Bis hierher kam er noch - dann schlug ich mit meiner Krücke zu! Das war zu viel, Konkurrenz konnte ich nicht gebrauchen.
Er fiel langsam die Treppe hinab, überhaupt nicht verärgert, eher glücklich lächelnd, endlich erlöst von dem hundertjährigem Joch dieses Kopfes.
Wie ich ihn so liegen sah, fehlte er mir plötzlich. Warum hatte ich ihn erschlagen? Ich schauderte vor mir selbst, wollte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, nicht mehr leben.
Wie zum Trotz mobilisierte ich die letzten Kräfte und schleppte mich die Treppe hinauf bis zur eisernen Gittertür.
Dort erblickte ich mit trüben Augen das Schild: „Ausgang wegen Bauarbeiten geschlossen bis zum Jahr 1000 vor Christi.”
Marcel Schock
JENSEITS DER WÖRTER
mach bitte langsam
Sie will Intensität
Das Tier in ihr
Weg von Autobahn und
Industrieller Ewigkeit
Die sie schon in beide
Richtungen befahren hat
Die Raststätten
Zum Auftanken
Am Ende der Woche
Kippen ihr oft
Ins Elektronische
Dem dauernden Drill
Des Vorrübergehenden
So schickt sie ihre
Blauen Schmetterlinge
In die Minitextwüste
Ständiger Sehnsüchte
Jahre später kommt
Die Antwort und so
Treffen sich nachts
In hipper Gastronomie
Sitzen bei Cocktails
Strangers in the Night
Im schwarzen Kurzen
Ohne Slip und praller
Wildlederhose gehen
Um die Ecke zu ihm
Berühren sich an
Den dünnen Stellen
Treiben es gierig
Im Stehen an der
Warmen Innenseite
Verflüssigt sinken
Sie auf rosa Laken
Schlummern erlöst
Dem Espresso entgegen
Danach wieder
Während eben
Eine Tasse fällt
Und Zerschellt
Streicht ihr Kleid zurecht
Steigt beschwingt ins Neon unterirdischer Welten
Stefan Welke
VERWANDT
Seit ich mich erinnern kann, begegneten wir uns. Nicht häufig, vielleicht einmal in der Woche. Es konnte auf dem Feld sein, welches Siedlung und Dorf trennte. Ebenso, wenn sie am Zaun ihres Gartens stand. Oder bei einem Gottesdienstbesuch, meistens zu Weihnachten.
Nur Sekunden sahen wir uns in die Augen. Meinem Gruß, formal aber höflich, wurde immer mit diesem Blick begegnet. Er brauchte eine Weile, bis er hinter ihren dicken Brillengläsern zu mir hervorsprang. Zuerst undurchdringbar, dann sich sekundenschnell in eine Flut emotionaler Signale auflösend. Besorgnis, Zorn, Zuneigung, Furcht, Freude, Trauer und Kälte fielen mich an, nur für einen Moment. Danach versank ihr Gesicht in maskenhafte Starre und jeder setzte seinen Weg fort, zu Fuß oder per Rad. Nie fiel ein weiteres Wort. Über 20 Jahre ging das so.
Es gab zwischen ihr und meinem Eltern keinen Kontakt. Ich wuchs auf mit dem Wissen um ihre Person. Von Zeit zu Zeit kamen Details hinzu, wobei sich nichts an dem Begegnungsablauf änderte. Sie blieb mir fremd, was ich normal fand. Kein Wunsch meinerseits, dies zu ändern.
Mein Vater schwankte in seinen Erinnerungen. Einerseits verklärte er ihre Bemühungen, ihn und seinen Bruder allein durchzubringen. Andererseits klagte er über die Härte ihrer Erziehungsmethoden. Die Geschichten wechselten, erfuhren Ausschmückungen, je nach Bedarf. Sein Vortragston war dabei sachlich, keinerlei emotionelle Reaktion zulassend. Bis heute.
Anders verhielt sich meine Mutter. Sie erzählte mir alles, offen und bemüht, mein Urteilsvermögen nicht zu beeinflussen. Daß Vater hinausgeworfen worden war, als er seine zukünftige, schon hochschwangere Frau vorstellen wollte. Er wurde buchstäblich auf die Straße gesetzt, sofort. Ohne Gnade. Womit Beschimpfungen meiner werdenden Mutter verbunden gewesen sein müssen. Sie durfte dann noch einmal, Jahre später, das Haus betreten. Geduldet, zur Beerdigung einer Tante, auf Drängen der Verwandtschaft. Wenn meine Mutter dies erzählte, schwang Ratlosigkeit und Trauer mit.
Eine weitere Quelle waren die Großeltern mütterlicherseits. Opa war kein Wort zu entlocken. Jedenfalls kann ich mich an keines erinnern.
Deutlicher verhielt sich Oma. Meistens bekam ich ein Grollen zu hören, das in einem kurzen Satz gipfelte. Dessen entscheidende Worte waren entweder ‘verrückt’ oder ‘geisteskrank’. Es sollte Jahre dauern, ehe ich mehr von ihr erfuhr.
Ein weiteres Phantom stellte sich ein, Vaters Bruder, nur präsent in Geschichten und wenigen Fotos. Die wichtigste Information über ihn, daß er vorm Mauerbau nach ‘drüben’ gegangen war.
Inzwischen wurde meine Schwester geboren. Sie wuchs ebenso auf, mit der Unbekannten am Weg.
Bis eines Tages das 2. Phantom meinen Eltern einen Besuch abstattete. Er erschien nicht allein, Vaters Bruder. Mit ihm kam seine Frau, klein und reserviert.
Der Höhepunkt dieses Besuches, ein Spaziergang der Brüder, inklusive beider Familien, durch den Ort. Diese Prozession führte sie u.a. zum Gartentor der Unbekannten. Dort klingelten sie mehrfach erfolglos. Der Weg zurück, ins Haus meiner Eltern, glich einem Eilmarsch. Am Abend fuhr der Besuch wieder ab.
Da war ich neun.
Zurück blieben die Geschichten meines Vaters, um eine Nuance bereichert. Wollte er doch gesehen haben, wie während des Aufenthalts vor dem fremdem Haus sich die Gardinen sacht bewegten.
Trotzdem keine Veränderungen bei den Begegnungen mit der Frau am Weg. Immer nur dieser Blickwechsel und ihre über die Zeit alterslose Erscheinung.
Inzwischen absolvierte ich Schuljahre, erlernte einen Beruf, wechselte Arbeitsstellen, sammelte Erfahrungen.
Ebenso zog meine Schwester ihre Kreise, vom Kindergarten über Schule bis hin zur Lehre, in der Apotheke nahe des Dorfes. Dort begegneten ihr viele der Bewohner, wenn sie Rezepte einlösten. Auch die Gemeindeschwester des Ortes gehörte zum Kundenkreis. Die beiden unterhielten sich oft, auch über die fremde Verwandte. Irgendwann kamen sie überein, gemeinsam der Frau einen Besuch abzustatten.
Am Abends danach erzählte meine Schwester mir von ihrer Visite und fragte, ob wir nicht ebenfalls zusammen die Unbekannte aufsuchen wollten. Worauf ich einwilligte.
Schon 2 Tage später standen wir dann vor dem Gartentor, wurden nach dem Klingeln eingelassen ins Haus. Verweilten einige Stunden, unterhielten uns mit der Fremden, tranken gemeinsam Kaffee. Mehr als ein gegenseitiges Abtasten war dieser Aufenthalt nicht.
Dann, wieder zuhause, berichteten wir unseren Eltern von diesem Besuch. Unsere Mutter zeigte sich mäßig interessiert. Vater hörte zu, am meisten jedoch interessierten ihn Möbel und Einrichtungsgegenstände.
Ich beschloß für mich, die Frau nochmals allein aufzusuchen.
Was ich auch tat, drei Mal.
Jedesmal stieß ich bei ihr auf eine merkwürdige Mischung aus Verbitterung, plötzlich aufkeimender Zuneigung, Einsamkeit und Verschwörungstheorien. Auffallend war ihre Freundlichkeit, die sich auch in Geschenken an mich niederschlug. Außerdem erzählte sie mir Geschichten, die ich alle schon von meinem Vater kannte.
Nach diesen Besuchen grübelte ich über das Erlebte. Kam allmählich zu dem Schluß, daß die Freundlichkeiten nicht mir galten, sondern nur ihren Söhnen. Alles, jede Geste und Gabe, erschien mir berechnet. In meinem Unbehagen beschloß ich, den weiteren Kontakt einzustellen.
Da war ich siebenundzwanzig.
Meine Schwester suchte ebenfalls nie wieder diese Frau auf. Gemeinsam mit mir gelangte sie zu der Erkenntnis, daß es nicht unsere Besuche waren, die die Fremde erwartete.
Kurz danach zog ich in die Stadt, meine Aufenthalte im Dorf wurden weniger.
Bei einem der folgenden Besuche im Elternhaus fing meine Oma an zu erzählen. Berichtete, daß sie die Mutter meines Vaters nach dessen Rauswurf mehrfach aufgesucht hatte, dort jedes Mal mit einem Schwall von Beschimpfungen und Drohungen begrüßt worden war.
Das bestätigte mich in meinen Entschluß, die Fremde nicht mehr aufzusuchen. Mir wurde klar, daß nur mein Vater den Kontakt wieder herstellen konnte.
Neulich, während einer Autofahrt, berichtete meine Mutter, daß die Unbenannte ein Gerücht in Umlauf gesetzt hatte. Demnach würde ich Nacht für Nacht vor ihrem Haus stehen und sie Klingelterror aussetzen. Auf die ernste Frage hin, wie ich das denn fände, konnte ich nur mit einem Lachen antworten.
Bis jetzt gibt es noch immer keinen Kontakt zwischen den Brüdern und ihrer Mutter.
Für mich ist sie weiterhin die Unbekannte am Wegesrand.