Der Freihafenabend am 23. Mai im M31 stand unter dem Motto „Berliner Geschichten“. Wieder waren die unterschiedlichsten und interessantesten Beiträge vertreten.

Nach der Begrüßung des Publikums durch die Moderatoren Daniel Kirmse und Marcel Schock begann das Lesepodium.

Ralf Pfennig eröffnete den Abend und stellte uns seine Geschichte „Ralf im Glück“ vor.

Hier ein Auszug:

Es war einmal ein junger Mann mit Namen Ralf. Er lebte in der großen Stadt Berlin, arbeitete fleißig das ganze Jahr, sparte sein Geld und wollte diesen Sommer mit seiner Freundin verreisen. Sie zeigte allerdings kein Interesse an fremden Ländern, konnte sich so gar nicht vorstellen, worin der Reiz am Reisen bestand. Dabei arbeitete sie viel zu viel. Auch die Fotos von seinen letzten Touren konnten sie nicht so richtig überzeugen.

So ging er zu der kleinen Reisemesse, wollte sich informieren, inspirieren, Prospekte sammeln, Ideen aufschnappen. Er nahm die S-Bahn, fuhr zu den Messehallen am Funkturm. Früher hieß der Bahnhof Witzleben. Aber das war den Oberen wohl zu provinziell. Sie tauften ihn auf Messe Nord Schrägstrich ICC.

In den Hallen am Funkturm drängten sich Reiselustige um die Stände aus aller Welt. Angefangen mit Brandenburg, weiter in Richtung Ostsee oder Thüringer Wald, von da nach ganz Europa und in die weite Welt hinaus. Ganze Stapel von Reiseprospekten wurden verteilt. Sogar die Berliner Verkehrsbetriebe verteilten großzügig ihr Informationsmaterial, darunter überschüssige Stadtpläne, auf denen sich die neusten Änderungen nicht fanden.

Bald hatte Ralf einen ganzen Batzen in seinem Arm. Schwer bepackt verließ er mit vielen anderen die Messe, wusste schon gar nicht mehr, was er alles mitgenommen hatte. Aber es waren genug Ziele, um seine Liebste zu einer Reise zu überreden, da war er sich sicher.

Auf dem Weg zum S-Bahnhof wurde der Stapel immer schwerer. Der Arm wurde ihm lahm. Hätte er doch nur seinen Rucksack mitgenommen!

Auf dem Bahnhof angekommen, sah er einen Zug einfahren, rannte die Treppen herab, stürzte schnell durch die Tür, als die roten Lampen schon leuchteten, fiel fast über die Beine der sitzenden Fahrgäste, konnte sich gerade noch halten, die Prospekte an sich drückend.



Anschließend folgten zwei Gedichte von Kay Tiedtke, die von dem Autoren im gebührenden Dialekt sehr zum Amüsement des Publikums auswendig vorgetragen wurden.


Die Herren von der Szene oder die Werte unserer Gesellschaft


Die Herren von na Szene haben oft kurze Beene,

und gierig sind se auch.

Jefühle haben ´se keene

Und Jeld lieb´n se wohl auch.


Es macht se stark, es macht se groß,

und macht se wohl auch wichtig.

Ohne Jeld fühl´n se sich bloß,

det is wohl sicher richtig.


Det Jeld wird mehr, vermehrt sich leis,

bis ´et denn laut mal kracht!

Dann jedet kleene Kind es weiß,

ach so hab´n s´et jemacht!


Und da et mehr als Jeld noch jibt,

jibt´s dann wohl auch noch Titel,

die sind bei allen sehr beliebt,

denn die sind schwer zu kriteln.


Die Titel, die haben immer recht,

und sind se noch so dumm,

und is det immer noch nicht echt,

dann biejen ´set eben krumm.


Im Krummbiejen sind se janz groß,

sie tun´s die janze Zeit´,

und wenn dabei mal wat zerbricht,

dann tut´s ihnen eben leid.


Die janze Zeit die is so krumm,

nicht nur unserer Rücken.

Mensch! Seid doch bloß nicht alle stumm!

Na det kommt wohl vom Bücken.



Großstadt


Autos hasten, Menschen scheinen,

ich dazwischen, könnte weinen.


Natur, die ist hier abgeschrieben,

können Menschen sich hier lieben?

Wo nur Zeit für Arbeit da ist,

und der Frohsinn doch so rar ist.


U-Bahn fahren, Ampel warten,

ich dazwischen, Missgeraten?


Der Irrsinn, der ist hier die Norm,

und wehe du bist nicht konform,

der Druck der setzt von Hinten ein,

sei doch nicht dumm und auch kein Schwein!


Du musst doch was Vernünft´ges tun,

hast auch nicht so viel auszuruh´n

sowie die Andern musst du´s machen!

Was gibt´s denn jetzt wieder zu lachen?


Die Andern sind vernünft´ge Tote,

wenn ich das sag bin ich der Rote.

Das Leben traf ich nach der Mauer,

die`s Leben vergessen, haben’, Trauer.


Trauer sich oft in Bosheit zeigt,

die Bewohner zur Gewalt geneigt.

Die Schuld -; haben ja doch die Andern!

Mein Geist soll wandern, ich soll wandern?


Leben das ist hier zu kaufen,

Piepshow, Fernsehn’ und zu saufen!

Persönlichkeit hält man hier feil,

Plastik in Gold, das macht den Style!


So wie wir sind ist normal!

Wir sind die Meisten an der Zahl!

Anders zu sein, das ist nicht richtig,

dafür sind wir viel zu wichtig!


Ob´s euch gut geht kann man zählen,

ach ja ihr dürft sogar noch wählen.

Gut ist, wenn viel produziert,

auch wenn der Mensch dabei verliert?


Bis jetzt hab ich hier mit gelebt,

so gedacht wie ihr, auch mitgewebt,

am Netz, wo wir hängen, wir Toten,

machen wir uns selbst die Knoten!


Ihr sagt der Zoo hier sie normal,

ich sehe hier jedoch viel Qual,

die Knoten werde ich zerschneiden,

auch wenn die Toten mich dann meiden.


DAS LEBEN BEGINNT!



Erstmalig stellte die Autorin Bärbel Dorn einen ihrer Texte über einen Obdachlosen dem Freihafenpublikum vor. Die Geschichte „Das Festmahl“ stammt aus der Anthologie „Liebe deine Feinde“ und wurde im Ferber-Verlag Köln 2004 veröffentlicht.

Das Festmahl

Wenn das Wetter einigermaßen ist, sitz ich immer ein paar Stunden hier. Ist ein guter Platz. Zum Supermarkt ist es nicht weit. Wenn ich Nachschub brauche.

Den Blick der Kassiererin, die heute Frühschicht hat, kann ich kaum ertragen. Mitleid und Verachtung auch nicht, wenn ich meine paar Euros hinlege, und wenn’s dann nicht reicht, und ich muss ne Büchse dalassen. Immer meint sie, mir nen guten Rat geben zu müssen: “Such dir endlich Arbeit!” Die hat Ahnung! Wie ne italienische Mamma sitzt sie hinter ihrer Kasse, passt mit ihrem dicken Hintern kaum in das kleine Kabuff, der Busen hängt knapp über den Tasten und sie meint, das könne ihr nie passieren.

Hab ich auch mal gedacht. Hab gedacht, wenn ich meinen Job ordentlich mache, immer en bisschen mehr als nötig, dann passiert mir das nicht. Hab geackert, vierzehn Stunden am Tag. Die Wochenenden oft auch. Klar, Karin, was meine Lebensgefährtin war, maulte, doch irgendwo musste das Geld für ihre Katalogbestellungen ja herkommen. Als der Chef mir dann Adieu sagte, hab ich rein gar nichts kapiert. Braucht nicht mehr so viel Leute, hat er gesagt. Plötzlich hatte ich Zeit. Viel Zeit. . . .



Vor der Pause präsentierte uns Maike Stein ihren Text „Eine Reise“, in dem sie beschreibt, wie Mann/Frau verreisen und dabei doch in der heimatlichen Stadt bleiben.

Ein kurzer Textauszug:

"...jetzt bin ich noch beim Kochen, zerteile Ingwer und frischen Knoblauch, während meine Liebste versucht zu erkennen, welche Reiseprospekte der Mann in der S-Bahn umklammert hält.

Beide seufzen wir uns was vor von Sonne und von Wellenrauschen, und ich höre das Rattern der S-Bahn durch das Telefon und das Brutzeln des Gemüses in der Pfanne, vor mir auf dem Herd. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass der Himmel sich verdüstert, regenschwere Wolken rücken an, verstärken sofort das Fernweh, auch der durch Häuserwände beschränkte Ausblick trägt dazu bei, wie viel schöner wäre es, die Augen über ein Meer bis zum Horizont schweifen zu lassen, statt über einen Berliner Hinterhof. ..."



In der anschließenden Pause gab es wieder genug Gelegenheit, sich untereinander über die Texte oder anderem auszutauschen, Bekanntschaften zu schließen oder zu erneuern.



Nach der Pause begann wieder Ralf Pfennig mit seiner Geschichte „Falsche Frage“ um eine Partybekanntschaft und deren Folgen …

Mein Kumpel Nils nahm mich mit auf diese Party im fernen Zehlendorf. Erst wollte ich nicht, dann hatte er mich überredet. Ich würde niemanden weiter kennen. Aber Getränke und Knabberzeug, dazu Musik gratis, da sagte ich noch nie nein. Vielleicht würde ich ja ein paar nette Leute treffen, wenigstens ein interessantes Gespräch führen. Immer noch besser als allein vorm Fernseher den Abend abzuhängen.

Nils stand in der Küche, futterte und schwatzte mit seiner Ex. Darauf hatte ich nun so gar keine Lust. So ging ich in den Raum, wo die Musik am lautesten war. Die Beleuchtung war spärlich, ein paar Leute tanzten.

„Schräge Mucke hier“, meinte ich zu der Frau, die mit einem Glas Wein in der Hand neben mir stand.

„Reichlich schräg.“ Sie drehte sich zu mir, sah mich an. Erst da fiel mir auf, dass sie ganz hübsch aussah. Offene, kecke Augen, ein nettes Lächeln. Sie öffnete den Mund: „Was hörst du so?“

„Mehr was Gerades.“

„So?“ blickte sie schelmisch.

„Ja. Kannst ja mal zu mir kommen.“ Dabei versuchte ich ein schräges Grinsen auf meinen Mund zu zaubern, so ein wenig wie Clark Gable in seiner besten Zeit.

„Bist ja ein ganz schneller.“

„In dieser Ecke Berlins bewege ich mich nicht oft, hier kenne ich niemanden. Da kann ich mich ruhig daneben benehmen.“

„Nette Einstellung“, hauchte sie sanft, drückte mit ihrem Zeigefinger eine Delle in meine Brust.

„Muss an der Musik liegen. Macht mich ganz rammdösig.“

„Wir könnten in die Küche gehen.“ Sie hakte sich bei mir unter. „Da finden meist die besten Partys statt.“

„Lieber nicht. Da sind schon genug andere.“

Keine Lust auf Nils und seine Ex zu treffen.



Anschließend gab es wieder zwei neue kurzweilige Taxigeschichten von unserem Stammgast Martin, natürlich zum Thema Taxi und Großstadt …

BMW 520i vs. MB 200 D

Ich fuhr gemütlich mit ungefähr hundertundzwanzig Sachen auf der Rudolf

Wissel Brücke den Stadtring Richtung Norden, als ich im Rückspiegel

bemerkte, wie ein grüner BMW an meiner Stosstange herumkratzte. Ich tippte

vorsichtig mein Bremspedal an. Gerade so stark, dass die Bremslichter

aufleuchteten. Die kleine Bewegung mit dem Fußgelenk hatte eine große

Wirkung, denn der BWM verringerte quietschend seine Geschwindigkeit. Mein so

herausgefahrener Vorsprung schmolz allerdings nach wenigen Sekunden wieder

völlig zusammen. Die Straße war feucht und meine zweite Bremsung echt. Die

Räder des BMW blockierten und einen Moment lang sah es so aus, als geriete

der Wagen ins Schleudern.

Der Fahrer des BMW hatte alle Hände voll zu tun und ich sah deutlich im

Rückspiegel, dass er mindestens vier Arme besaß. Ich bremste erst auf die

vorschriftsmäßigen achtzig Kilometer pro Stunde herunter und wechselte dann

auf die rechte Fahrspur. Nachdem der BMW-Fahrer auf meine Höhe gezogen war,

kurbelten wir unsere Fensterscheiben runter und überbrüllten den rauschenden

Fahrtwind mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dabei stellte ich fest, dass

der Fahrer doch nur zwei Arme hatte. Während wir uns, etwa ab dem Jakob

Kaiser Platz, den ganzen Goerdeler Damm entlang beschimpften, hätte ich fast

die Autobahnabfahrt Großmarkt Beusselstraße verpasst, die mir aber ganz

knapp doch noch gelang. Der links neben mir fahrende BMW hatte es deutlich

schwerer. Ihm gelang die Abfahrt ebenfalls, allerdings nur mit einer

gewagten Rückwärtsfahrt. Wir standen an der roten Ampel der Autobahnausfahrt

gegenüber dem Plötzenseer Knast und beschimpften uns weiter. Die

wasserstoffperoxydblonde Baifahrerin unterstützte ihren Fahrer schrill und

unsachlich. Unser reicher Wortschatz an Beleidigungen ging zur Neige, was

sich dadurch bemerkbar machte, dass wir uns wiederholten. Aus Übermut, und

um mal etwas anderes zu sagen, forderte ich den Fahrer des BMW auf,

auszusteigen, falls er eine aufs Maul haben wolle. Als er dies wider

Erwarten sofort in die Tat umsetzte und ich einen ungefähr zwei Meter großen

Schrank mit zwei schrecklich tätowierten Unterarmen schnaubend auf mich

zukommen sah, als wäre ich ein rotes Tuch, verriegelte ich umgehend meine

Autotüren per Zentralverriegelung und beschloss, schon mal bei Rot los zu

fahren...


Alt Buckow

Das Geschäft an jenem Freitagabend lief ausgezeichnet. Das Geld lag

sprichwörtlich auf der Straße und musste nur noch aufgelesen werden. Die

Funkzentrale vermittelte die Aufträge per Erste Meldung, das heißt, sie

sprach nicht wie an ruhigen Tagen üblich zuerst zweimal die entsprechende

Taxihalte an, sondern rief sofort den Bestellort mit Hausnummer aus. Freier

Ausruf hieß das im Fachjargon und war gleichbedeutend mit: In Berlin steppt

der Bär. Der Kollege, der am schnellsten seine Sprechtaste bediente und

seinen Standort durchgab, bekam dann den Auftrag, es sei denn, ein anderer

Kollege meldete sich mit einer fünfhundert Meter besseren Standortmeldung

nach. Die Zentrale vermittelte fleißig einen Auftrag nach dem anderen und

hatte mehr zu tun, als ein Fluglotse auf dem Turm vom Flughafen Tegel jemals

zu tun haben wird. Ich hatte soeben einen Fahrgast tief im Süden Neuköllns

abgesetzt, nahe dem ehemaligen Mauerstreifen, und steuerte nun instinktiv

die Taxihalte Alt-Buckow an; tatsächlich, warteten auch schon zwei Personen

an der taxilosen, rufsäulenblinkenden Halte. Die beiden Fahrgäste, ein

großer Kräftiger und ein kleiner Schmächtiger, wollten nicht weit. Sie

wollten lediglich um die Ecke gebracht werden. An den Achterhöfen. Diese

Strecke hätten sie bequem zu Fuß gehen können, doch die beiden hatten

mächtig Schlagseite, weil sie ordentlich getrunken hatten, was die

einfachste Art der Fortbewegung zu einer Art Hindernislauf für sie machte.

Die beiden nahmen auf der Rückbank Platz, versuchten sich anzuschnallen und

selbst Dick und Doof hätten diesen sich daraus entwickelnden Slapstick nicht

besser spielen können, den ich schmunzelnd im Rückspiegel verfolgte. Bevor

sie sich zurecht gerückt und angeschnallt hatten, fuhr ich schon in die

gewünschte Straße. Der Dicke fing plötzlich an, mich zu beleidigen, worauf

ich augenblicklich aufhörte zu schmunzeln. Er schimpfte, ich sei an seinem

Hauseingang vorbeigefahren. Ich empfand das Gemecker des Dicken überflüssig,

unverständlich und geradezu ungerecht, denn er hatte mir keine Hausnummer

mitgeteilt ...



Der Abend endete mit einem lyrischen Beitrag von Sylvia Eulitz, die das Gedicht „Herbstzeitlosigkeit“ vorstellte, in dem es weitgehendst um Begegnungen in der Großstadt geht.

herbstzeitlosigkeit

begegnungen

entstehen aus der brodelnden tiefe

der gedanken

in einem gewölbe des seins

nach oben streben sie

fluten das tägliche bewusstsein

werden zu inseln der zeitlosigkeit

sanft getrieben von den wogenden welle

der anonymität

berühren sie sich, verweilen und enteilen

bis der moment

der unaussprechlichkeit

sie eins werden lässt –

eins in der herbstzeitlosigkei der großstadt.



Bevor sich der Freihafen in die Sommerpause verabschiedet, findet noch ein letztes Lesepodium am 20. Juni 2005 zum Thema Sonnenwende statt.