17.05.2004

Die Vögel zwitscherten und lieferten mit ihrem Gesang einen schönen Hintergrund, während wir den vielfältigen Geschichten des Abends lauschten – dieses Mal zum Thema Mist. Bei der Vorbereitung des Abends fielen erstmal nur folgende Variationen ein: Mistkäfer, Mistwetter, Misthaufen, Mist-elzweig, Mistkarre, Mistkerl – Schimpfwörter oder Landleben... Da half nur noch eines: ausmisten, klar Schiff machen, die Bühne freigeben, damit die Autorinnen und Autoren des Abends an- und loslegen konnten.

Die erste Autorin, die auf der Bühne ihren Anker auswarf, war Regina. Sie behauptete: „Mir geht es prima“ und erzählte eine Geschichte von einem Tag ganz nach Murphy‘s Gesetz, sprich bei der Protagonistin geht alles schief, was nur irgendwie schiefgehen kann. Vom Chef gekündigt, gestürzt und sich mindestens was verstaucht, vom Freund verlassen – und obendrauf dann noch ein Anruf von der Mutter, die ihre Probleme abladen möchte... Ein Tag, der eben einfach Mist ist.

Mit „Lebenslang“ segelte Sylvia auf unsere Bühne. Wir begrüßten sie zum ersten Mal im Freihafen – sie hat versprochen, wieder zu kommen. Ihre Geschichte handelt von einer Freundschaft zwischen zwei Frauen und einem dramatischen, nebligen Abend. „‘Carol?‘ Ich bemerke die zwei Lichter in Carols Augen, die mich anlachen und mir ihre Liebe offenbaren. Ich werde von dem Kreischen des heranrasenden Autos emporgehoben und falle wie ein totes Herbstblatt, welches eigentlich erst nach seinem Fall in voller Schönheit leuchtet und von den Fußgängern achtlos beiseite getreten wird, sanft zu Boden. Noch einmal will ich Carols Namen rufen, aber ich schaffe es nicht. So müde kann nur ein Toter sein, denke ich schwach und grinse über diesen Schwachsinn, der durch mein Unfallgeschädigtes Hirn tobt. Was ist hier los? Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich spüre nichts und versinke in mein geliebtes Nebelgrau, der mir nun endlich sein Geheimnis verrät: Fluss und Bewegung, das Streicheln des Windes, er hat mich in sein nebliges Innerstes eingeschlossen. Ich lächele über soviel Naivität, lasse mich aber von fremden Händen, die den flüsternden Nebel in mir erbarmungslos beiseite wischen, bereitwillig hochheben. ... "Können Sie mich hören?“ , laut und fremd ist es, dieses Gesicht, so voller Leben. Ich will auch leben, denke ich müde und habe die Frage und das Gesicht schon wieder vergessen. ... Ich sehe Carol, wie sie dasteht, so völlig selbstverständlich und gelassen, zugleich aufgeregt und nervös, aber vor Liebe überströmend. Als wüchse sie aus dem Boden, geschichtslos, nur der Erde zugehörig, wie die riesigen Bäume an der Straße hinter mir, die auftauchen, mich streifen und rasend schnell wieder verschwinden, dem weinendem Krankenwagen stumm Platz machend. Es scheint mir, als weine die ganze Stadt. ... Der Nebel in mir triumphiert und umschlingt mich besitzergreifend. Sein mitleidloses Grau umfasst mich mit einer weichen Härte und zieht mich unentwegt in seine Arme. Ich richte mich, unsichtbar für die anderen geworden, auf und erblicke Carol, die immer noch mit ihrem schwarzen Mantel und dem Kirschduft in ihrem Haar dasteht und mich vorsichtig anlächelt. Ich lächle zurück und spüre den Schmerz unserer Liebe, die uns entgegenleuchtet. Langsam, sehr langsam stehe ich auf und gehe auf sie zu.“

Wellen von Gelächter rief Ralfs Geschichte hervor, denn er ließ sich dieses Mal von einem Abend inspirieren, den Autorinnen und Autoren des Tintenschiffs in gemütlicher Runde mit einem guten Essen verbracht hatten. Allerdings werden wir an dieser Stelle nicht verraten, was seiner Phantasie entsprang und was der Wahrheit entspricht. “Mist! Wir haben einen Allergiker in unserem Freundeskreis oder: Am eigenen Tellerrand endet der Horizont” Die Geschichte begann mit den Schwierigkeiten, die glutenfreies Mehl hervorrufen kann... “Ich hatte die Zutaten wie gewohnt beisammen. Nur das Mehl, es war irgendwie anders, bildete ich mir ein. Es schien sogar anders zu riechen. Aber nein, hör auf zu spinnen! sagte ich mir selbst und tat es zu den anderen Zutaten. Aber es passierte nicht das, was passieren sollte. Ich rührte und es ergab keinen Teig. Komisch! Ich tat mehr vom Mehl hinzu. Schon hatte ich eine klumpige krümelige Masse in der Schüssel. Überglücklich war ich, als endlich der Teig in der Form war, wenigstens so einigermaßen sich an den Rand schmiegte, sich von meinen Fingern gelöst hatte.” Die Gäste treffen ein, die Küche ist ein unpräsentierbares Chaos, also wird am Sofatisch gegessen. “Nun brachte ich die heiße Quiche auf den Tisch. Der Rand sah komisch aus. Ich berichtete von den Qualen der Herstellung durch das andere Mehl. Dann versuchte ich aus dem Runden Ecken zu schneiden. Aber es ließ sich kein vernünftiger Schnitt durchführen. "Verdammtes Messer!" "Hoffentlich bekommen wir keine Pickel von dem glutenfreien Mehl." Ein erleichtertes Lachen folgte.” Natürlich ist der Mensch mit der Gluten-Allergie abwesend. Aber: im Verlaufe des Essens stellen sich noch andere Allergien heraus, so dass der Gastgeber am Ende genervt aufgibt. “Sofort beschloss ich das Dessert nicht zu servieren, den Wein einzuschließen und den Wodka später allein zu trinken.”

„So ein...“ dachte sich die Autorin und hackte hastig ein Gedicht in den Computer. „Mist / Wer hat sich das nur ausgedacht / Mist / Das wäre doch gelacht / Mist / Mir wird ganz trist / Mist / Der Alltag knabbert und er frisst / Mist / Mir fällt nichts ein / Mist / Ich lass es einfach sein“ Trotz dieser Ankündigung hatte Maike für den Freihafen dann doch eine Geschichte im Seesack (in der schon wieder eine U-Bahn vorkam): “Umleitung” „Sie saß in der U-Bahn, las die Todesanzeigen. Hoffte, dass er dieses Mal endlich dabei wäre. Sie studierte die Seiten noch einmal, um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte. Dann knüllte sie die Zeitung methodisch zusammen, formte eine feste Papierkugel, ließ sie zu Boden fallen, kickte sie quer durch den U-Bahnwaggon. Verdammter Mist. ... Alles war genau abgesprochen. Und es klang so einfach. Sie schien eine leichte Karte gezogen zu haben. Warten, das konnte sie. Hatte sie jahrelange Erfahrung drin. Warten auf Büroschluss. Warten auf das Wochenende. Warten auf Verabredungen. Warten auf ein Versprechen. Warten auf Wärme. Warten auf das Ende der Nacht, seit sie nicht mehr schlafen konnte. Zunächst gab es auch kein Problem. Sie wartete. ... Es war mehr als ein Versprechen. Ein unumstößlicher Pakt. Eine Verschwörung. Gemeinsam gegen das nutzlos gewordene Leben. Gemeinsam gegen die Trostlosigkeit. Gemeinsam gegen den Wahnsinn, den alle anderen Alltag nannten. Es hatte ihr Sicherheit gegeben. Sie gewiegt im Warten. Jeden Morgen war sie aufgewacht, war voller Spannung durch ihre Routine gelaufen, die Treppen hinunter geeilt, hatte den Tag abgespult. Erst am Abend gönnte sie sich die Lektüre, der sie entgegen fieberte. Dann jedes Mal die Enttäuschung. Aber auch jedes Mal die aufflackernde Hoffnung: morgen. Fast hatte das Leben angefangen, Spaß zu machen.“

Stefan war nahe daran die Segel zu streichen, denn eine “Störung” wollte ihn hartnäckig daran hindern, eine Geschichte zu formulieren. “Der Miniatururwald des Innenhofs nahm uns auf. Kein Gedanke ans Schreiben, da ich gerade Brennnesseln auswich. Ansonsten nur wild wuchernde Sträucher, alter Baumbestand, hohes Gras, die Unrast des Katers, zwitschernde Vögel und ich. Wir kamen erst an einem Baum zur Ruhe. Der Kater, über mir auf einem dicken Ast, aufgeregt lauschend, schnüffelnd, um sich blickend. Darunter ich, an der Leine. Allmählich beruhigte sich das Tier. Beobachtete weiter die Gegend. Ich hing meinen Gedanken nach. Beschloss eine Geschichte zu schreiben, später. ...” Zurück in der Wohnung setzte er sich also voller Tatendrang an den Computer, aber die Störung in Form seltsamen Lärms ließ nicht lange auf sich warten. “Die Männer entfernen sich aus meinem Blickfeld. Mit ihnen das Dröhnen der Sauger. Eine anderes Störgeräusch nähert sich. Nicht von unten, aus den Tiefen des Innenhofs. Ich wende meinen Kopf in Richtung der neuen Lärmquelle. Erschrecke für einen Moment, denn ein Mann ist mit mir auf Augenhöhe. Draußen, vielleicht vier bis fünf Meter entfernt vom Fenster. Ich wohne in der dritten Etage. Angeseilt, an einem Baum klebend, stutzt er dessen Äste. Natürlich mit einer schweren Säge, inklusive dröhnendem Motor. Jedes Aufheulen während des Schneidens kündet von Verlust. Zurück bleiben Stummel, recken sich gen Himmel. Wie eine stumme Klage, mitten in diesem Lärm.”

Ina warf zum ersten Mal im Freihafen ihren Anker aus und philosphierte darüber, dass sie immer viel zu nett sei. Doch: “Das passt mir nicht” – also nahm sie sich ihre Katze zum Vorbild und geriet so in seltsame Abenteuer. Denn ihre Katze demonstriert, was ihr nicht passt, indem sie zum Beispiel auf die Klamotten des neuen Freundes pinkelt. Also überlegte sich die Autorin, was ihr alles nicht passte und zog los. Von Natur aus eher schüchtern brauchte sie eine Weile, um dem Vorsatz auch tatsächlich Taten folgen zu lassen. Dann erschien ihr auch noch ihre Katze, die ganz und gar nicht davon begeistert war, als ihr neues Vorbild zu dienen...

“Opti Mist” - schon mit dem Titel gelang es unserem holländischen Matrose Arjen mal wieder einen ganz neuen Blickwinkel auf das Thema des Abends zu finden. Er erzählte von einem, dem das Leben zwar öfter quer kommt, der sich davon jedoch nicht im Geringsten stören oder gar die gute Laune verderben lässt. “Endlich mal ein Brief. Das gibt es doch nicht: von Motte, diesem falschen, fauligen Fuchs, der sich nur meldet, wenn er einen braucht. Wann haben wir uns zum letzten Mal gesehen? Ach ja, vor einem Jahr, bei seinem Umzug. Von den zehn angekündigten Kumpeln war ich der einzige, der angeblich sein Haus gefunden hätte. Komische Freunde. ...”

Marcel wirkt zwar schon länger am Freihafen mit – bislang unter Deck sozusagen – hatte an diesem Abend allerdings seinen ersten Auftritt in diesem Rahmen. Seine Geschichte hieß “Nah am Glas” und ist ein Text über das Große und das Kleine und über die Begrenztheit des Lebens. “Er mochte dieses Schneeschweben. Die Luft des Hofes ­ das sonst unsichtbare Draussen ­ war zu einem Aquarium, zu einer dieser wirbelnden Schneekugeln, zum bergenden Gegenüber geworden. Ein kleines Zauberstück und immer noch verknüpft mit dem Staunen der ersten Jahre seines Lebens. Wie war das...... mit jeder Zärtlichkeit entschwindet ein Stück unserer Kindheit? So weit, so leicht ­ wie ganz nebenbei ­ hatte er die Mantras noch nie gehört.”

Ilja kam verspätet hereingesegelt, hatte dafür aber zwei Geschichten im Gepäck. „Papa Schulze ist schon einer“ erzählt davon etwas zu verlieren und wiederzufinden. „Papa Schulze war auf dem Weg zur Bäckerei, um Apfelkuchen zu kaufen, den er zum Frühstück essen wollte. Plötzlich stolperte er, fiel der Länge nach auf den Bürgersteig, und als er da so lag, stellte er fest, dass sein Humor beim Sturz abhanden gekommen war. Und nicht nur der Humor war abhanden gekommen. Papa Schulze klopfte seine Gesäßtasche ab, diese fühlte sich seltsam leer an. Er griff rein, und richtig, sie war leer. Das Portemonnaie fehlte ebenfalls. Papa Schulze schaute sich suchend um, und so sehr er das auch tat, das Portemonnaie blieb verschwunden. In ihm war sein ganzes Geld gewesen, alles, was Papa Schulze besaß, und somit konnte er keinen Apfelkuchen kaufen. „So ein Mist!“, schimpfte Papa Schulze und bedauerte, genau in diesem Moment seinen Humor nicht zur Verfügung zu haben....“ “Der Schöne & das Biest“ ist eine Geschichte von einem Autor, der eigentlich ein Model ist und nur so tut, als wäre er ein Autor, während der wahre Autor, für den er posiert, so hässlich ist, dass er meint, stelle er sich selbst dar, würde der Erfolg ausbleiben. Und Erfolg haben sie mit ihrem Arrangement. „Aus dem Saal unten stiegen Ovationen herauf. Dazu vereinzelte Bravorufe. Das Orchester spielte eine schwungvolle Melodie. Es spielte eine Variation des Liedes So ein Tag, so wunderschön wie heute ... Robert stand auf dem Siegertreppchen und verneigte sich. Als das Orchester geendet hatte, trat er von dem Treppchen herunter vor ans Mikrophon und hob die Hände mit einer Geste, die um Ruhe bat. Nur schwer wollte sich Ruhe einstellen, die Begeisterung kannte kaum eine Grenze. ...“ Nach einer kurzen Rede kann Robert endlich die Bühne verlassen, zwar mag er irgendwie diese Begeisterung, aber so langsam geht ihm das Ganze auf die Nerven. "Harry Reuter, ein Mann um die sechzig, der bereits einigen deutschen Nachwuchsschriftstellern zum Erfolg verholfen hatte, hielt zwei Gläser in der Hand. Als Robert bei ihm angekommen war, drückte er ihm eins in die Hand und murmelte: „Glückwunsch, Robby. Es ist eine tolle Geschichte, und du hast den Preis verdient. Und danke, dass du mich in deiner kleinen Rede erwähnt hast. Wär nicht nötig gewesen, freut mich aber sehr. Ach, übrigens, darf ich dir meine neue Entdeckung Frau Bull vorstellen?“ Harry wendete sich zu der Schwarzhaarigen, die streckte Robert ihre Hand entgegen. „Bitte, nennen Sie mich Sandra“, sagte sie. ... Harry hatte ihm schon viele weiblichen Nachwuchstalente im Laufe der Jahre vorgestellt, aber so plump bisher noch nicht. ... Robert ahnte, was jetzt folgte. Sie würden stundenlang über Literatur und den Buchmarkt reden, über tote und lebende Autorinnen und Autoren, über Schreibtechniken und die Globalisierung der deutschen Sprache. Er hatte nicht im Geringsten Lust dazu. Dafür gab es Gründe. Außerdem ahnte er, dass diese Gespräche einzig und allein zu dem Zweck stattfänden, dass sie miteinander im Bett landeten. Wenn er Sandra anschaute, stand ihr das deutlich auf der Stirn geschrieben. Warum eigentlich nicht die ganze Sache abkürzen? Sie war nicht die erste Nachwuchsautorin, mit der er – Dank Harry – herumvögelte, und sie würde auch nicht die letzte sein. Robert hatte es sich angewöhnt, sie schnell wieder von sich zu stoßen. Auch dafür gab es Gründe. Er nahm ihr das Glas aus der Hand, trank es leer, schmiss es hinter die Kastanie und rückte ein Stück näher an Sandra heran. Seine Hände griffen in ihre schwarzen Haare. „Ich mag es oral“, flüsterte er.“ Nur dieses Mal hat er damit Pech, die Nachwuchsautorin ist wenig begeistert von seiner Anmache. Also schleicht sich der Autor zum anderen Schauplatz der Geschichte – zum Autor hinter dem Model... „Mecki schreckte hoch. Er war eingepennt. Er schaute auf die Uhr, es war bereits kurz vor Mitternacht. Wo blieb Robert? Der wollte sich doch gleich nach dem offiziellen Teil des Abends absetzen und herkommen. War etwas schief gelaufen?“

Wir haben den Abend wieder sehr genossen, waren gerne mit unseren Gästen auf großer Fahrt durch die Gewässer der Phantasie. Im Juni heißt es: “Feste feiern” und das in doppelter Hinsicht. Einmal ist es Thema der Texte, zum Anderen wollen wir aber tatsächlich feiern mit allen, die den Freihafen so besonders gemacht haben. Es gibt ein Büffet, die Wirte des Mephisto schmeißen den Grill an – das Wetter wird uns hoffentlich gewogen sein.

Nach der Party geht es in die Sommerpause und im September nehmen wir dann wieder volle Fahrt auf, lassen uns den Wind um die Ohren sausen und erzählen uns “Lügengeschichten”.



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