FREIHAFEN 21. März 2005

Dieser Freihafen – Abend war für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung: denn das zunächst nüchtern und erschreckend an den Alltag erinnernde Motto: „Mobiltelefon“ regte die Fantasie und Lebendigkeit der Schreibenden an und das Ergebnis war alles andere als banal und nüchtern: die ungewöhnlichsten Einfälle und humorvollsten Geschichten belebten den Abend und die Zuhörer, und die erstaunlichsten Geschichten kamen zum Vorschein, Geschichten, die sich alle mehr oder weniger locker auf das kleine elektronische „Wunder“ und nicht mehr wegzudenkende Gerät der heutigen Hosentasche bezogen: nämlich dem Handy oder auch: dem Mobiltelefon.

In ihrer gewohnt charmanten Art und Weise moderierten Daniel Kirmse und Marcel Schock den Freihafen und Marcel begann als Einleitung mit dem Vorlesen eines Artikels aus dem „SPIEGEL“ zu dem Phänomen Handy und seine wachsende kulturelle und soziale Bedeutung in unserer heutigen Zeit.

Der erste Beitrag kam von Maike Stein mit dem Titel „Eine Entscheidung“, in der sie das Auf und Ab einer Beziehung, Treue, Verliebtsein und Eifersucht schildert und bei der die allseits bekannt-beliebt-verhasste Funktion der SMS als Kommunikationsmittel eine neue Dimension erhält …

Warum gab es in dieser Bar keine tickende Uhr? Dann könnte sie wenigstens hören, wie die Zeit verging. Es gab einen Barkeeper mit Sonnenbrille, aber keine tickende Uhr. Sara blickte auf die Zeitanzeige ihres Handys. Viertel nach drei.

Warum konnte Isabelle nicht ein Mal pünktlich sein? Da steckte doch wieder – ihr Handy brummte, zeigte eine SMS an.

„Hi,

komme jetzt erst los.

Bin in ner halben Std. da.

Sorry wegen der Verspätung,

Isabelle.“

Sara klickte die SMS weg, schob das Handy zurück in ihre Hosentasche.

Wie feige. Eine SMS statt einem Anruf. Hatte Isabelle Angst, ihre Stimme klänge verräterisch nach Sex mit Chantal?


Danach erklomm Ralf Pfennig frohen Mutes das Freihafenpodium und präsentierte dem Publikum seine Urlaubsgeschichte aus weiter Ferne, mit dem verheißungsvollem Titel: „Waldesrausch“, ein Text, der die Farben, Sinneseindrücke, Geräusche, das satte Grün der Bäume und letztlich die lärmende Lebendigkeit des Waldes so eindringlich und greifbar schilderte, dass die Zuhörer bis ganz zum Schluss nicht daran dachten, dass der Erzähler beim Schildern seines Spazierganges durch den Wald kein einziges Mal sein Handy dabeihatte!! Unglaublich, aber wahr …

Ein Bach rann inmitten des Waldes, nahm die Feuchtigkeit auf und gab ihr eine Richtung. Steine brachen das Wasser. Das langsam Fließende wurde aufgerissen, plätscherte hinab, strudelte, brodelte, kochte, warf Wellen, riss mit und wellte sich in einem kleinen Becken aus, ehe es seine Reise durch den Wald weiterführte. Eine Kröte saß am Rande, halb im Wasser, blies ihre Backen, gab Töne von sich. Irgendwoher kam quakend eine Antwort. Schon setzte ein ganzes Orchester von Bläsern und Quäkern ein. Woraufhin sich auch die Grillen erneut zu Wort meldeten. Sie zirpten und gurrten, wurden lauter, schriller, übertönten die Kröten und Frösche. Ein heftiger Wind setzte ein und ließ den ganzen Wald erzittern. Es donnerte vom Himmel herab, Regen prasselte hernieder, tropfte zu Boden. Es war, als gäbe Mutter Erde ein Konzert mit allen Tönen des Waldes. Ich hörte zu, lauschte andächtig, nahm eine einzigartige Fülle an Klängen wahr, war erfüllt, erlebte Unerhörtes.

Und nicht ein einziges Mal klingelte ein beschissenes Telefon!

Vor der Pause und nach einem zweiten SPIEGEL – Zitat von Marcel folgten dann noch Anna und Karin (die stellvertretend für ihre Freundin Inge las) und gaben ihren Lese - Einstand mit den Geschichten „Klingeling oder Erotik im Zeitalter des Mobiltelefons“ und „Das Mobiltelefon“.

In der fünfzehnminütigen Pause hatte man wie immer die Möglichkeit, sich zusammen zu finden, einen wohlverdienten Kaffee zu schlürfen und sich über die Texte und weitere spannende Dinge zu unterhalten oder auch einfach an der Bar zu stehen, und den Abend plus die ungezwungene Atmosphäre im M 31 zu genießen …

Wieder begann der Leseteil mit einem SPIEGEL – Zitat von Marcel, der dann Alain’s Geschichte mit dem verdächtig futuristisch klingendem Titel: „6. März 2053 – Brave New Handy – World“ einleitete.

Und diese Geschichte hatte es tatsächlich in sich!

Akribisch genau und mit einer guten Portion sarkastischem Humor gewürzt entfaltete sich hier dem Leser eine erbarmungslose Vision einer Zukunft, bei der die perfektionierte Technik dank ausgereifter Geräte, die auf den ersten Blick an unsere vertrauten Handy – Quälgeister erinnern, vom ersten Atemzug an alles buchstäblich kontrolliert und den Alltag streng reglementiert – sei es nun das morgendliche Duschzeremoniell, der Gang zur Arbeit oder der Sex mit einem Arbeitskollegen – der Autor hat es geschafft, den Alptraum „Maschine kontrolliert Mensch“ in seiner Geschichte auf mitreißend sarkastische Weise herüberzubringen.

Anschließend folgte noch einmal Ralf mit seinem übermütigen Text „Lass es klingeln“, in der es schlicht und ergreifend um eine Kontaktaufnahme und zwischenmenschlichen Beziehungen der ganz ausgefallenen Art geht, das kleine unauffällige, penetrant klingelnde und kribbelnde Handy wird hier zum Retter einer schier ausweglosen Situation …

Da vibriert es auf dem Tisch. Eine Melodie spielt dazu. Ihres vollführt einen Tanz, kreiselt und brummt. Auf der Stelle schwillt mein heißes Eisen dahin.

„Was ist los?“

„Dein . . .“

„Lass dich nicht aufhalten!“

Ihres hört auf, regt sich nicht mehr. Auch bei mir regt sich nun nichts mehr.

„Zu spät.“

„Deines hat dich wohl weniger gestört.“

„Gib mir nur einen Augenblick.“

„Das hast du das letzte mal auch gesagt!“

„Da war es meine Mutter . . .“

„Wenn ihr Männer nicht mehr weiter wisst, ist immer die Mutter schuld!“

Langsam lege ich nach. Das Eisen muss man schmieden, solange es heiß ist. Und sie ist heiß. So schwinge ich den Hammer, blase heißen Atem in die Glut, während sie mich erneut anfeuert.

Da passiert das gleiche noch einmal. Ihres vollführt einen Tanz, während meines schweigt.

„War es das jetzt?“

Sie nimmt ihres. Es kribbelt und kitzelt ihre Hand. Sie lacht verzückt, rekelt sich dazu übertrieben.

„Ach, schieb es dir doch rein!“

„Danke für den Tipp. Was anderes wird mir ja auch nicht übrig bleiben, du Versager! Sonst passiert heute ja nichts mehr.“

„Hoffentlich treibst du es dann nicht aus Versehen mit deiner Schwester.“



Nach einem weiteren SPIEGEL – Zitat von Marcel kam Regina Seidel auf die Bühne und stellte ihre Geschichte „Wochenendausflug“ vor, in der es um ein Ehepaar, ein vergessenes Handy und seinen überraschenden Folgen ging.

Zum Abschluss dieses Freihafen – Abends folgte dann Arne, der in seinem Text namens „Anna“ die Geschichte eines jungen Mannes und seine verhängnisvolle Begegnung mit der Freundin seines Mitbewohners erzählte.

Insgesamt war es ein gelungener FREIHAFEN mit ungewöhnlichen, einfallsreichen und abwechslungsreichen Geschichten, und der, last but not least, uns allen das Alltags - Kuriosum „Mobiltelefon“ in einem neuen, liebevolleren Licht gezeigt hat.