15.03.2004

Full House! Fast, drei oder vier Plätze waren noch frei, aber die Lesenden sahen dieses Mal tatsächlich in ein Meer von Gesichtern. Das Thema „Stadtgeschichten“ hatte viele inspiriert und neugierig gemacht. Natürlich ist Berlin auch eine Stadt, die voller Geschichten steckt. Allerdings blieben wir an diesem Abend nicht nur Zuhause, wurden auch auf Reisen in andere Städte mitgenommen.

Ralf erzählte in „Ein ganz normaler Tag“ von einem alt gewordenen Träumer. Wir erlebten seinen Tag, der sich zunächst von keinem anderen unterschied. Der Hausmeister ist verärgert, weil er schon wieder Vogelfutter in den Hof gestreut hat, das Mittagessen kommt wie immer zu früh. Die Reste davon bringt er seinen Freunden im Park. „Vor mir haben sie keine Scheu, sie kennen mich, wir sind ja Freunde! Schon zeigt sich wieder diese vorwitzige Schnauze. Aber diesmal kommt sie nicht allein. Zu dritt kommen sie, machen sich über das Futter her. Sie sind schön anzusehen. Das hellbraune Fell, diese kleinen neugierigen Augen! Zuerst stürzen sie sich auf das Fleisch, aber auch das Gemüse wird nicht verschmäht. Ja, selbst der Kartoffelbrei von gestern findet Gefallen. „Was gibt es dort zu sehen?“ fragt die Frau neben mir. Ehe ich antworten kann, schaut sie an meiner Schulter vorbei ins Gebüsch. „Iihh! Ratten!“ Ihr schrilles Geschrei vertreibt meine Freunde!“ Doch dieser Tag endet anders als die vorhergehenden, denn heute macht der alte Träumer sich selbst ein Geschenk. „Der Verkäufer war wirklich sehr geduldig. Ach ja, das Streu kommt zuerst. Da ist es ja, zwischen all den anderen Sachen. Sie wird immer ungeduldiger. Ich lasse die Ratte so aus dem Karton, daß sie mir nicht entwischt, gleich in ihren Käfig springt.“ Und schon gerät er wieder ins Träumen. „Im Geschäft werde ich noch einen Rattenmann für dich aussuchen. Einen mit einer genauso schönen Schnauze. Im Glanz seiner Augen wird sich dein Fell spiegeln. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen. Nach der Hochzeitsnacht werdet ihr Kinder bekommen, ganz viele kleine Rattenbabys! Das ganze Haus wird dann euch gehören! Nur der Hausmeister darf euch nicht sehen! Er würde versuchen, euch mit seinem Spaten zu erschlagen. Auf den Armen trage ich euch spazieren, auf meiner Schulter könnt ihr sitzen. Frauen werden spitze Schreie ausstoßen. An der Kasse werde ich vorgelassen, damit ich ja nur schnell wieder verschwinde. Mit den Ratten im Park könnt ihr dann spielen. Ich sitze auf der Bank und schaue zu. Der kleine Junge von nebenan wird mich dann auch mal besuchen kommen, will sich euch anschauen.“...

„Enddorn-Kantine“ von Stefan ist die Geschichte von einem, der auszog, um in die Großstadt zu ziehen. So ein Umzug will gut überlegt sein, also setzt er sich in eine Kneipe im Prenzlauer Berg und macht so seine Beobachtungen. „‘Eigenwillig.‘, kommt es ihm leise über die Lippen. Für nördliches Flair sprechen die Netze an den Wänden. Faszinierend die Umrisse der Papiermöwen. Ein Blickfang der miniaturisierte Plastikwal. Und an einem nahestehenden Pfeiler ein Barockengel. Authentisch der in der Karte offerierte Sanddornschnaps. Er sucht nach Ablenkung. Blickt zum Fenster. Nur Schuhe und Beinkleider vorbeihuschender Passanten.“ Fast lässt er sich dann noch abschrecken, als sich eine eher gruselige Gestalt zum Tresen bewegt, fängt sich aber schnell wieder. Überlegt schmunzelnd was wohl geschähe, wenn, passend zum Ambiente der Kneipe, die Tür aufflöge, ein Mann im Südwester vom Sturm hereingeweht käme...

Regina fesselte uns mit einem Krimi „Mörder wider Willen“, Tatort Großstadt. Ein Mann wird zum Mörder, weil die Frauen in seinem Leben nicht sensibel genug mit ihm umgingen. „Langsam beruhigen sie sich, die wilden Flatterdinger. Er nimmt die Hände vom Kopf und lehnt sich zurück. Gleich würde jemand kommen, um ihn zu verhören, haben sie gesagt. Also hatten sie sie gefunden. Natürlich hatten sie sie gefunden. Er hatte sich keine große Mühe gegeben mit ihr. Sie nur über den Boden zu dem kleinen Kellerverschlag geschleift, eine alte Decke über sie geworfen und sie dort eingeschlossen. Dann hatte er das Blut weggemacht. Es war nicht seine Schuld, sie hätte nicht so schreien dürfen. Er konnte das einfach nicht ertragen. Die Mutter schrie auch immer so viel. Konnte er was dafür, dass er keine Arbeit behielt? "Fauler Sack!", sagten sie zu ihm. Dabei war er gar nicht faul, nur langsam. Schnelligkeit verwirrte ihn. Man musste die Dinge langsam tun, sonst verloren sie ihre Form, verwandelten sich in böse Gespenster. Die Mutter wusste das, aber sie schrie trotzdem oft herum.“ Wir wurden in die Geschichte gesaugt und am Ende von einer genialen Wendung kalt erwischt.

„Morgens, U2“ war die erste U-Bahnfahrt des Abends auf dieser Linie. Maike flocht unterschiedliche Handygespräche zusammen, die eine Frau mithört, während sie von der Schönhauser Allee zur Bülowstraße fährt. „Mörder? Hatte sie tatsächlich Mörder gesagt?... Krimi in der U-Bahn? Ich wurde wach. Rechts. „Entschuldige, aber du musst aufhören damit. Wir brauchen beide Zeit... Ja, ja, das verstehe ich ja... Du quälst dich doch nur selbst.“ Ein kurzer Blick bestätigte mir, dass er ebenfalls gequält aussah. Mein Gegenüber hingegen strahlte. „Du bist wirklich der verrückteste Kerl, dem ich je begegnet bin! ... Ich dich auch.“ Immerhin zwei, die glücklich waren. Was sein Liebster wohl getan hatte? Das Aufgebot bestellt?“ Eigentlich muss sie sich entscheiden, ob sie ihren Job kündigen will oder nicht – lässt sich von den Gesprächsfetzen um sich herum aber immer wieder ablenken. „Wir hielten am Spittelmarkt, der Verliebte lauschte andächtig, nutzte das gegenüberliegende Fenster als Spiegel, ordnete seine schwarze Stachelfrisur. Ich unternahm einen weiteren Versuch, meine Neugier zu zügeln, mich auf meine innere Diskussion zwischen Sicherheitsbedürfnis, Stolz und Unabhängigkeitsdrang zu konzentrieren... Ich verlor den Faden irgendwo zwischen Vorteil Nummer neun und Nachteil Nummer zehn. Der Liebesroman war dazu übergegangen, Koseworte in sein Telefon zu turteln. Stadtmitte.“ Am Ende hat sie zwar zu keiner Entscheidung gefunden, aber vielleicht genug Stoff für eine neue Geschichte... „Andererseits kreisten meine Gedanken um einen unschuldigen Mörder, der sich in einen hoffnungslos romantischen Punk verliebte, dessen toughe Cousine den wahren Mörder überführte... Ich stieg aus.“

Hasso brachte gleich zwei Geschichten mit. In „Berlin“ bemüht er sich, aus dem Urlaub zurückgekehrt, einen gelassenen Rhythmus beizubehalten. Im Urlaub gelang das so mühelos, war so angenehm und auch viel gesünder für das eigene Wohlbefinden. In der Stadt allerdings warten viele Hindernisse, verlocken zur Eile, zur Anpassung an die allgemeine Hektik. Da ist die U-Bahn, die gerade einfährt, wenn man unten an der Treppe steht, der schnelle Schritt der Massen, die durch die Stadt hasten, immer von einem Termin zum nächsten getrieben. Aber nur wegen des hetzenden Rhythmus die Stadt verlassen? Kommt nicht in Frage! In Form eines Briefes wendet er sich in seiner zweiten Geschichte an Herrn „Wallraff“, den ehemaligen Enthüllungsautor, fragt sich, was er heute tut, ist entsetzt über ein Interview in einem Krankenkassenmagazin, wo Wallraff die zugehörige Krankenkasse über alle Maßen lobt. Sehr zum Missfallen des Autors, selbst Mitglied besagter Krankenkasse und somit wissend, wie sehr in jenem Interview gelogen wird.

Nach Münster nahm uns Hedda mit. „Hinter dem Dom“ erzählt von schlechten Zensuren und ihren seltsamen Folgen. Außerdem spielt die Geschichte damit, dass man das Glas halb voll oder halb leer sehen kann. Evelyn hat in einem Aufsatz zwanzig Rechtschreibfehler gemacht. Für sie eine beachtliche Leistung. Zudem hat sie die zu interpretierende Geschichte vollkommen richtig gedeutet. Trotzdem war der Lehrerin ihr Aufsatz nur eine vier minus wert. Evelyn trödelt geknickt durch die Straßen, begegnet hinter dem Dom einem Hund, der sie zu einer seltsamen Begegnung führt. "Als sie vor Anstrengung schwitzt und schon ein ganz rotes Gesicht hat, macht der Hund halt. Er setzt sich und will Evelyn mit einem Bellen, das klingt als zöge von Ferne ein Donner heran, auf etwas aufmerksam machen. Sie sieht sich um. Sie steht vor einem herrschaftlichen Gebäude. Zwischen zwei Dämonenköpfen ruht eine gewaltige Tür, die sich vor ihren Augen lautlos öffnet." Was dann geschieht, hilft ihr, sich wieder aufzurichten – eine Zensur ist eben nur eine Zensur und zu wissen, was eine Geschichte ausdrücken will, ist wesentlich mehr wert.

Arjen hatte dieses Mal den Blues, ging mit uns einkaufen zu Aldi. Im „Albrecht-Dietrich Blues – oder: noch nicht mal Freitag, der 13.“ erzählt er vom Kartoffelkaufen und der Leichtgläubigkeit der Menschen, sobald Geld ins Spiel kommt. „Sich stützend auf einem Wanderstock und mit einer Krokohandtasche am Handgelenk wühlt sie unzufrieden zwischen den im großen Karton eingefangenen Kartoffelsäcken. Ich will auch Kartoffeln aber sehe schon von weit weg, dass sie mich so nicht ran lässt. Ich entscheide mich dafür, ausnahmsweise mal nicht aufdringlich zu sein. Deshalb versuche ich, mein Vorhaben mit einem ruhigen aber entschiedenen allmählich näher kommenden Schritt anzukündigen. Jedoch, vielleicht wegen ihres fortgeschrittenen Alters und daher schwächenden Wahrnehmungsvermögens, gibt sie nicht nach und ignoriert einfach mein speziell auf sie gezieltes Manöver. Soll ich später noch mal vorbei kommen? Oder sie einfach zur Seite schieben? Während ich mir das direkt neben ihr überlege, wühlt sie unbeeindruckt weiter.“ Die rüstige Rentnerin macht ihm nicht Platz, es kommen noch mehr Leute, die sich um die Kartoffelkiste drängeln. Alle suchen den 1000-Euro-Schein, der, laut Radio, zwischen den Kartoffeln versteckt sein soll. Der Autor, der als einziger bemerkte, dass es so einen Schein gar nicht gibt (was niemanden interessiert), landet schließlich selbst in besagter Kiste: „Ich befinde mich mittlerweile Kopf unten in den Speisekartoffeln umrandet von einer Menschentraube. Alle starren auf meine linke Hand, die irgendwo heraus ragt. Mit Mühe schaffe ich es, den Kopf hinzudrehen und sehe, dass diese Hand einen großen Schein mit der magischen Zahl 1.000 umklammert. Gerade als meine rechte Hand eine Bewegung zur linken macht, würgt mich eine dritte starke Hand begleitet von einem inzwischen bekannten "O Mann, ey!" und pocht ein Wanderstock auf meinen Bauch.“ Natürlich war es nur ein Aprilscherz...

Daniel behauptet in seiner Geschichte „Regen in Berlin“, dass es eben jener ständig hier fällt. Trotzdem lässt Silvio für eine Verabredung sein Auto stehen, begibt sich in den Untergrund, mit der U2 Richtung Prenzlauer Berg. Als passioniertem Autofahrer stößt ihm in diesem Fortbewegungsmittel natürlich so einiges auf. „Silvio zwängte sich in einen überheizten Wagon der U-Bahn. Eine Wolke abgestandener, Menschen geschwängerter Luft, wie sie aus den U-Bahnschächten hervorquillt, umfing ihn. Dreizehn Stationen! Er fühlte sich lebendig begraben. Er hatte auf das Auto verzichtet, trotz des Wetters. Silvio war ein gebranntes Kind. Erst letzte Woche verpasste er den Anfang eines Filmes, weil er eine dreiviertel Stunde nach einem Parkplatz suchen musste.“ Nachdem er tapfer die Widrigkeiten der U-Bahn ertragen hat, muss er feststellen, dass es am Veranstaltungsort jede Menge freier Parkplätze gibt und sein Date selbstverständlich mit dem Auto angereist ist...

In die Gedankenwelt eines Taxifahrers im nächtlichen Berlin entführte uns Martin mit der Geschichte „Mekosch“. Er driftet durch die Stadt, jagt seinen Gedanken hinterher, ständig auf der Suche nach dem nächsten Fahrgast. Diesen findet er in Mekosch. Für kurze Zeit gleiten sie gemeinsam durch die Nacht, teilen ein paar Geschichten. „Wie er denn zu seinem Spitznamen gekommen sei, fragte ich ihn. Irgendwie klinge er polnisch, fügte ich spontan hinzu. Dies verneinte er bestimmt. Nein, er sei Deutscher, durch und durch. Der Tonfall, in dem er dies feststellte, verriet mir, dass er meine Bemerkung durchaus hätte übel nehmen können, wenn er dies gewollt hätte: Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort, mit einem anderen Menschen, vielleicht in nüchternem Zustand.“


Vielen, vielen Dank an alle Autorinnen und Autoren, die uns an diesem Abend so gut unterhalten haben! In den Städten stecken noch so viele Geschichten, dass wir bereits beschlossen haben, das Thema nochmal aufzunehmen. Beim nächsten Freihafen, am 19.04., heißt es allerdings erst einmal: „Mit anderen Augen“. Wir sind gespannt auf eure Geschichten!