Der letzte Freihafenabend am 20. Juni 2005 vor der Sommerpause war dem Thema „Sonnenwende“ gewidmet. Wieder waren die unterschiedlichsten Beiträge aus dem Bereich der Prosa und Lyrik vertreten.
Durch den Abend führten Daniel Kirmse und Marcel Schock, die sich an diesem Freihafenabend zugleich auch als Moderatoren des „Freihafens“ zum letzten Mal präsentierten.
Als ersten Beitrag stellte uns Ralf Pfennig seine Erzählung „Reisetagebuch eines Automobilisten“ vor.
DIENSTAG
Schon am Frühstückstisch rede ich vom bevorstehenden Tag auf der Straße. Ob ich denn was von der Landschaft sehen würde, fragt meine Frau. Für mich besteht das ganze Land nur aus einem schwarzen Band! Dann sollten wir den Wagen einen Tag mal stehen lassen, meint sie. Na, ich gebe mich nicht so einfach geschlagen. Außerdem haben wir für die ganze Zeit bezahlt! So rollen wir dem nächsten Abenteuer entgegen. Es beginnt schon an der ersten Kreuzung. Wir haben Vorfahrt. Aber das interessiert einen Einheimischen nicht. Dem zeige ich es! Mal sehen, was in dem Motor steckt. Meine Frau mahnt mich vorsichtiger zu fahren, während sie sich krampfhaft am Türgriff festhält. Hier fährt niemand vorsichtig! Ob sie das noch nicht mitbekommen hätte, blaffe ich zurück. Da schramme ich schon gegen eine Steinmauer. Wir halten an, besehen uns den Schaden. Ach, Kratzer, nur Kratzer, sage ich, die hat hier jedes Auto. Meine Frau möchte nicht mehr weiter fahren. Aber das nächste Hotel ist noch weit. Ich verspreche langsamer zu fahren, auch wenn wir erst in der Nacht ankommen werden.
Es folgten zwei Gedichte von Stefan Welke „Urlaub“ und „Urlaub auf dem Land“.
Urlaub
Morgenluft wittert
Schwalbenkreischen unterm Fenster.
Motoren dröhnen taktvoll
zum Gähnen der Passagiere.
Erster Augenaufschlag,
ein Gedanke,
folgt dem Nachbarn
die Straße entlang
zum Bäcker.
Urlaub auf dem Land
Verleitet von dem Ungemach
der Ferne,
was mich nie erreichte,
aber immer in Erzählungen
anderer mitschwang,
mache ich jetzt Urlaub.
Auf einem Landgasthof
in Bayern.
Kuhfladen um Kuhfladen
zählend,
in den ich nicht trat.
Vergessend jene,
die ich nie erwähne,
als ich trotzdem von Ferne
zu träumen wagte.
Anschließend konnten wir Anna Münch begrüßen, die uns bei ihrem zweiten Besuch ihren Text „Zeitungslesen, aktiv / Eine romantische, relative Liebesgeschichte“ mitgebracht hatte:
… Er stand vor ihr, die nackten Füße in Badelatschen. In Badelatschen! Der wenig athletische Körper war unter einem T-Shirt mit der Aufschrift *Strandwächter* verborgen. Die Shorts ließen den Blick frei auf haarige Beine, die in eben diese Gummischuhe mündeten. Sie starrte ihm zuerst auf die Füße, ließ den Blick dann allmählich empor wandern, über knochige Knie, den dürren Leib entlang bis in sein Gesicht, welches sich in größter Anspannung zu verzerren schien, als wollte es während der nächsten Sekunden explodieren. Die Lippen pressten sich aufeinander, die Augen wurden klein, Falten der Anstrengung verzogen seine Wangen, aus den Poren pochte der Schweiß - bis er es vollbrachte: "Hi.", kam es aus der verspannten Fratze …
Ebenfalls zum zweiten Mal beim „Freihafen“ zu Gast stellte uns Bärbel Dorn zum Thema Sommer, Sonne, Wende vier lyrische Beiträge vor, die beide in „6 Richtige Lyrik lebt“, Band 2, ferber-verlag köln, bibliothek (neuer) autoren, ISBN 3-931918-62-9 veröffentlicht worden sind.
Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung
Nach dem Tod
allen Anspruchs
berechtigten
wird
die Hoffnung
jetzt
an der Börse
gehandelt.
Der DAX
fällt.
Zwischen Wasser und Wolken
Wellenfaltenwurf
aufs Meer gelegt
am Horizont das Schiff
hält Kurs
das Schweigen
der Qualle übertönt den
Möwenschrei & Ich
strecke Tentakeln
nach Mir aus
keine Realität,
die Ich
nicht
definiere
Blaublassgeruch
Tangsalzhimmel
Mit ihrem Gedicht „Sonnenwende“ präsentierte sich Carolyn Macmillan das erste Mal dem Freihafenpublikum:
Sonnenwende
Wende dich nicht!
Wohin nur, meine Sonne?
Es wird noch dauern
bis du mich verlassen hast.
Noch spüre ich deine -
glühenden Fingerstrahlen
auf meiner Haut ...
und auch später,
wenn Farbe
meinen Körper ziert -
bleibt etwas von dir.
Wenn aber mit ihr
Erinnerung verblasst,
hoffe ich,
du wendest dich
mir wieder zu.
Als spontan entstandene Antwort las Sylvia Eulitz ihr Gedicht: „Erst wenn ... „zu Carolyns „Sonnenwende“:
Erst wenn die Sonne ihren Lauf beendet
Die Meere ihr Lied neu singen
Der Wind seine Heimat findet
Die Strahlen glühende Haut in Samt verwandelt
In bleibender Erinnerung unvergesslich
Werde ich bei dir sein - Strebend lautlos gegen Sanft.
Den Abend beendete Kay Tiedtke mit einem prosaischen Essay über das Gute und Schlechte im Menschen, ein längerer Vortrag über das menschliche Sein.
Ein Textauszug steht leider nicht zur Verfügung.
Der letzte Freihafenabend in dieser Saison endete hiermit und für Autoren und Publikum bestand die Möglichkeit, sich anschließend beim Grill auf der Terrasse vom M31 auszutauschen und die milde Abendluft entspannt zu genießen.
Die Gruppe Tintenschiff bedankt sich bei Daniel und Marcel für ihre Moderation in dieser Saison, die ab September von Ralf und Regina weitergeführt wird.
Nächster Freihafentermin ist Montag, der 19. September mit dem Thema „Unterwegs“.