19.01.2004

Da saßen wir also in einer kleinen aber feinen Runde beisammen, an diesem Freihafen-Montag im Januar. Morgens hatte es begonnen zu schneien, was ja zunächst sehr schön aussah, allerdings setzte nur allzubald das Tauwetter der weißen Pracht ein Ende, verwandelte sie in grauen Matsch. Der hielt dieses Mal wohl einige fern. Der Abend wurde trotzdem sehr gemütlich und unterhaltsam, wir erfuhren viele verschiedene Arten, das Thema „Ich kenne sie irgendwoher“ anzugehen. Alle Vortragenden hatten sich zu Prosatexten inspiriert gefühlt, Lyrik gab es an diesem Abend nicht, dafür vielerlei Weisen des Bekanntvorkommens und Doch-Nicht-Erinnerns. Das konnte eine Stimme sein, die Gefühle wachrief, ohne dass sich ein Bild dazu fand. Natürlich auch das vertraute: „Verdammt, das Gesicht kenne ich, aber woher?“ mit unterschiedlichen Folgen.

Der Abend begann mit Ralf und: „Ein Gefühl“. Zwei Freunde treffen sich in ihrem bevorzugten American Diner. Am Tisch nebenan sitzen ein paar Frauen, unterhalten sich. Plötzlich hört Luke eine Stimme, die er wiedererkennt. Sie weckt derart überwältigende Gefühle aus, dass er von ihnen mitgerissen wird, zu den Frauen hinüber geht und eine eher ungewöhnliche Ansprache hält, Dinge sagt, zu denen er wohl sonst nie den Mut hätte (zumindest nicht in der Öffentlichkeit): „Eben habe ich eine Stimme gehört, eine Stimme voll Wärme und Zartheit. Ich spürte ganz großes Vertrauen, als würde mich jemand in den Arm nehmen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich diese Stimme kannte, mich tief im Innersten nach ihr sehne. Auch wenn ich kein Gesicht zu dieser Stimme sehe, sehen kann.“

Weniger um große Gefühle als eher um kleine Eitelkeiten ging es in Stefans‘ Geschichte “Theaterpause“: manchmal sind die Promis, die ins Theater gehen eben interessanter als diejenigen, die auf der Bühne stehen. Ist der Promi erst einmal erkannt, werden auch Lästerer zu Verehrern, schmücken sich gern mit den bunten Federn. „Ich bemerkte nur halblaut, daß der Mann mir bekannt vorkäme. Dann entschuldigte ich mich und ging zur Toilette. Im Weggehen hörte ich erneutes Lachen. Auf dem Herrenklo, vor den Pissoirs, fielen mir Stichworte ein: Theater, Intendanz und Hamburg. Aber noch kein Name. Nachdem ich dort fertig war, die Hände gewaschen hatte, wollte ich die Toilette wieder verlassen. Ich näherte mich der Tür, als diese sich öffnete. Der Buntgekleidete trat ein. Er kam auf mich zu, während ich ihn kurz im Stehen musterte. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung. Wir gingen aneinander vorbei. Als sich die Tür hinter mir schloß, fiel mir sein Name ein.”

Anja Zora ging das Thema mit einer Schwärmerei an. In “Sehnsucht” schreibt sie von einer Frau, die sich gar zu leicht in Träumereien verliert, sobald ihr eine Frau gefällt. Dann ist sie in ihrer Phantasie schon mit der Angebetenen zusammen, während sie diese in der Realität noch nicht einmal angesprochen hat. „Sie atmete erleichtert aus und malte sich das erste Date mit Lotta aus: Sie würden Essen gehen, bei Kerzenschein, im Separée... Ja, vielleicht wäre sie Charly sogar ähnlich? Damit zog Lou ihren Mantel über und ging durch den fast schon leeren Raum zur Tür.”

Nach der Pause setzte Maike mit “Lächle und sei froh...”, einer Geschichte über eine verzweifelte Frau, fort: “Die Nacht hatte ihr Netz ausgeworfen und Sara hatte sich darin verfangen. Mal wieder. Seit sie ihr neues Leben austestete, geschah ihr das immer öfter. Hoffnung war dabei ihr größter Antrieb. Irgendwann musste das doch mal klappen. Drei Monate seit ihrem Coming Out und sie war immer noch nicht mit einer Frau im Bett gewesen. Nicht nur, dass sie selbst ungeduldig wurde – nein, auch ihre Hetero-Freundinnen nervten mit ihrer ewigen Fragerei: Wie ist es denn nun mit einer Frau? Sind Frauen besser als Männer? Ist der Sex anders? Was machen zwei Frauen im Bett miteinander? Wie sieht es mit Sexspielzeugen aus?” Endlich erspäht sie eine Schöne an der Bar, die ihr irgendwoher bekannt vorkommt. Nach einer eher peinlichen Episode mit einem umgekippten Bier auf der Toilette, nimmt sie schließlich ihren Mut zusammen, spricht die unbekannte Bekannte an...

Nach den ganzen ge- und missglückten Beziehungen brachte Daniel mit seiner Geschichte militärische Ordnung ins Spiel. In: “Wann wir schreiten Seit an Seit” schickt er Paul (dem Publikum bereits aus der Geschichte für den Dezember-Freihafen bekannt) ins ungeliebte Wehrlager: "„Alarm!“ brüllte eine heisere Stimme auf dem Gang von einem gellenden Pfiff begleitet, „Alarm! Alles raus treten!“

Paul Barzik wurde aus dem Schlaf gerissen. Er versuchte wieder einzuschlafen, als Richard nachdringlich an seiner Schulter rüttelte: „Los, Paul! Bist du scharf auf eine Sonderbehandlung?“ Widerwillig quälte sich Paul aus dem Bett. Fünf Minuten später stand er in einer sternenklaren Frühherbstnacht und fror vor Müdigkeit. Seit der neunten Klasse einmal jährlich Wehrlager. Obligatorisch für jeden männlichen Jugendlichen. Nachtalarm inklusive. Es war Pauls drittes, das erste als Lehrling. Er hasste es. Wie fast alle."

Neben der Schinderei nervt Paul eine gepfiffene Melodie, die er irgendwo schon gehört hat, auch der Pfeifer ist bekannt. Aber woher nur?

Arjen führte uns mit „Berliner Tango - Oder die tierische Freude des Wiedersehens“ zurück zu Beziehungshoffnungen, bestätigte den lange gehegten Verdacht vieler, dass Männer, sobald es um potentielle Geschlechtspartner geht, nur noch eine Gehirnzelle besitzen. Und diese lässt auch nur noch einen Gedanken zu: „Er hat geschrieben. Er hat auf die Anzeige geantwortet. Er hat zugebissen! Dieses Warten und Hoffen vor dem Computer war also doch nicht umsonst. Ein anderer "er", nicht der "er" von vorher sondern die abwartende Penelope des virtuellen Computerzeitalters, freut sich hier bis zum Wahnsinn und spürt ein innerliches Glühen vor Freude. Die einzige Gehirnzelle dieses Glühwürmchens weiß nur noch eins: Paarungsprogramm einschalten.“

So ging der Abend auf der Bühne zu Ende, im Café klang er noch lange nach, weitere Geschichten wurden ausgetauscht, AutorInnen schlossen neue Bekanntschaften, an die sie sich hoffentlich auch in den nächsten Monaten noch erinnern werden!



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