Freihafen – Tagebuch vom 20. Februar 2006

„Alles wird“ – so lautete das vielsagende und frei interpretierbare Motto dieses Freihafenabends am 20. Februar und dementsprechend konnten neben alten Bekannten an diesem Abend auch neue Gäste begrüßt werden.

Die Moderation des Abends bestritten die beiden Tintenschiffautoren Ralf und Sylvia.


Regina, die schon in den letzten Monaten unser Gast war, eroberte als erste die Bühne: Sie hatte zwei Texte mitgebracht, ein Gedicht mit dem Titel „Ein Lied“ und eine Kurzgeschichte „Magisches Licht“, die sie dem Publikum vorstellte.


Es folgte der Tintenschiffautor Ralf mit seiner Geschichte „Keine Ahnung“

Es war ein langer, heißer Sommer. Seit zwei Wochen verirrte sich schon kein Kunde mehr in mein Büro, Achte Straße, Ecke Washington. Ein dreistöckiger Bau aus der Zeit als noch Goldgräber durch die Stadt zogen, der Colt lockerer saß, die Sitten rauher und die Damen sanfter waren.

Mary hatte ich gekündigt. Ich konnte sie nicht ruhigen Gewissens länger als zwei Monate beschäftigen, ohne ihr mehr als ein Pott Kaffee oder hin und wieder ein Stück Kuchen zu bezahlen!

Ein 43er Olds fuhr vorbei und ich verfluchte gerade den Ventilator, der mal wieder seinen Geist aufgab, als diese Frau herein kam. Sie hatte Beine bis zum Boden. Und Haare! Vom Scheitel bis zur Sohle eine Dame. Sie passte ebenso wenig in diese Bruchbude, wie der Papst. Ansonsten hatten die beiden nicht viel gemein!

Ich setzte mich auch sogleich ordentlich hinter meinen Tisch, zog die Krawatte zurecht, überlegte noch, ob ich mir mein Jackett überziehen sollte, als sie ihre Kostümjacke auszog. Was nun zum Vorschein kam, konnte nur ein Gott erschaffen haben, der an die Liebe und die Käuflichkeit derselben glaubte.

„Sie wünschen?“ fragte ich ahnungslos.


Danach stellte er dem Publikum Erika vor, die das erste Mal als Freihafengast begrüßt werden konnte und ihren Text „Alles wird gut? – Eine Familiengeschichte“ mitgebracht hatte.

[...] „Woher soll ich das Geld denn nehmen? Ich habe dir alles gegeben, was ich habe! Kannst Du nicht einmal mit dem Geld auskommen?“ antwortete Paul genervt, drehte sich um und ging mit einer Flasche Bier in seinen Bastelkeller.

„Dann kaufe ich auch kein Bier mehr!“ schrie Ulla hinterher. Ulla fasste einen folgenschweren Entschluss. Sie rief Moni an und verabredete sich mit ihrer ältesten Tochter. Ich saß in meinem Zimmer, las ein Buch und hörte dabei Musik. Als ich bemerkte, dass sich meine Eltern wieder einmal stritten, hatte ich mir Kopfhörer aufgesetzt und so den Streit nicht in seiner vollen Lautstärke mit zu bekommen.

Es ging immer ums Geld. Einmal sagte Vater zu mir:

„Deiner Mutter Geld geben, ist wie Wasser in die Spree

gegossen“.

Damit hatte er schon Recht, aber der dauernde Streit darüber nervte mich nur noch. Ich seufzte. Meine Geschwister hatten es gut; alle waren verheiratet und weggezogen, nur ich nicht.

Irgendwann war ich eingeschlafen. [...]


Anschließend folgte wieder ein neuer Gast, Hans „Ulli“ Ulrich, mit zwei Lyrikbeiträgen frei nach dem Motto „Alles wird – manchmal“...

Manche Liebe wird verblassen,

mancher Kuss wird Rarität,

manche Sehnsucht wird gelassen,

mancher Wunsch wird umgedreht.

Jede Mühe wird sich lohnen,

jeder Einsatz wird riskiert,

jeder Erfolg wird bei dir wohnen,

jeder Gewinn wird registriert.

Manches Lied wird oft gesungen,

manches Blatt wird mal gewendet

mancher Stift wird lang geschwungen,

dieser Text wird jetzt beendet.


Den Abschluss bildete die Tintenschiffautorin Sylvia mit einem Auszug aus ihrer Erzählung „Chaconne“:

[...] Ihr Bruder stand kerzengrade in der Mitte des Raumes, etwas abseits vom Flügel, und hatte seinen Blick auf den Vater gerichtet. Das Licht fiel mit voller Stärke auf ihn und beleuchtete ein schmales Gesicht mit einem verschlossenen Mund. Der Vater schien etwas sagen zu wollen, jedoch nahm Johann mit einer harten Geste die Geige an das Kinn und schloss die Augen.

Es wurde still im Raum, nur die Baroness neigte ihren Kopf leicht zur Seite mit einer solch merkwürdigen Gebärde, die Anna unwillkürlich an die Bewegung eines Vogels erinnerten. Kurz begegneten sich ihre Blicke, dann schaute sie wieder weg und Anna musterte verstohlen die elegante Kleidung und das glatte Weiß ihrer sorgfältig frisierten Haare.

Dann drang die leise Stimme ihres Bruders an ihr Ohr.

„Ich spiele die Chaconne.“

Annas Hände verkrampften sich im Schoß und sie wagte es nicht, aufzublicken. Niemand sagte ein Wort, eine erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Nur Anna vernahm das scharfe Luftholen des Vaters, sich steif hingesetzt hatte und seinen Blick unverwandt auf den Sohn gerichtet hielt. [...]


Zwar kann nicht berichtet werden, dass die Anzahl der Lesenden die „magische Fünf“ überboten hat, dennoch darf ruhigen Gewissens behauptet werden, dass es ein erfolgreicher und stimmungsvoller Freihafenabend war, mit interessanten und abwechslungsreichen Texten sowie einem gemütlichen Beieinander nach der Lesung im M31.