19.04.2004

Ein auserlesenes Publikum versammelte sich an diesem Abend im Mephisto, um den Geschichten rund um das Thema „Mit anderen Augen“ zu lauschen. Ich blicke gerne auf diesen Abend zurück, schwelge gerade auf dem Sofa sitzend, mit schnurrender Katze neben mir, in Erinnerungen. Wie immer gibt es hier für euch ein paar Einblicke. Viel Spaß beim Lesen und vielleicht machen euch die Textausschnitte ja so neugierig, dass ihr beim nächsten Mal selbst vorbei kommt!

Ralf lieferte den ersten Beitrag des Abends, „Kunstmaler“, eine Geschichte über einen Maler und seine Freundin. Sie will gerne mit ihm in Urlaub fahren, bei ihm läuft es gerade schlecht, also denkt sie sich Wege aus, damit er ein Bild verkaufen kann. „Keine Verkäufe, keine Aufträge. Und wir wollten diesen Winter in den Süden! Bei mir sah es besser aus. Aber er würde kein Geld von mir nehmen. Allein wollte ich nicht reisen. Ich musste mir was einfallen lassen. Denn dazu war er zu chaotisch. Künstler! Ich liebte ihn. Wenn niemand ein Bild kaufen wollte, dann würde eben ich eines kaufen. Sechshundertneunundzwanzig Euro lautete das Angebot im Schaufenster des Reisebüros. Für Sechshundertfünfzig Euro würde Marek ein kleines Ölbild oder ein großes Aquarell malen.“... Natürlich geht es nicht ganz ohne Verwicklungen und Misstrauen, bis es endlich in den Urlaub – oder vielleicht auch nicht? Wer Montagabend im Publikum saß, kennt die Antwort.

Martin nahm das Thema des Abends wörtlich. In „Die Augen OP des Monsieur K.“ erzählt er von eben jenem Mann. Er lässt sich auf etwas ein, ohne wirklich zu wissen, was er da tut: „...er erklärte sich dazu bereit. Die Person, deren Augenlicht er retten sollte, war ihm unbekannt. Er hatte sie noch nie in seinem Leben zuvor gesehen. Hätte er sich nicht zufällig zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesem Krankenhaus befunden und ihm ein Arzt den Fall nicht so ausführlich geschildert, er hätte sich nie zu dieser Operation bereit erklärt. Nun lag er mit verbundenen Augen auf einem Bett auf Rollen, das mit einem weißen Laken überzogen war und wartete, dass man ihn in den sterilen Operationssaal schob. Spontan hatte er dieser Operation zu gestimmt, von einer Stunde zu anderen, ja, man konnte sagen von einer Minute zur anderen. Die Ärzte hatten ihn noch nicht einmal über die Konsequenzen und Tragweite einer solchen Entscheidung unterrichtet.“...

Gabi versetzte sich in die Gedankenwelt ihrer Großmutter, erzählte in „Abschied nehmen“ von deren Liebe zu ihrer Enkelin und was der Abschied von ihr für sie bedeutete. Sie hatten einige Zeit zusammengelebt, nun kam die Enkelin nur noch in den Ferien. „Meine Gedanken verselbstständigen sich, rufen mir noch einmal jenen Tag im März ins Gedächtnis zurück, an dem Kathi in die Stadt gezogen ist und die erste milde Frühlingssonne doch eigentlich einen so prachtvollen Tag versprach. Plötzlich, völlig unvermittelt und ohne die geringste Vorwarnung streckte mit einem Mal das Alter seine gierigen Finger nach mir aus. „Hast Du geglaubt, mir zu entkommen?“ Vielleicht war ich manchmal diesem Wunsch erlegen. Unbewusst. Ich hatte nie darüber nachgedacht. Und ein unsichtbarer Schatten verdunkelte ein wenig die Pracht dieses Frühlingstages. Inzwischen bin ich wieder daheim angekommen. Räume das Geschirr vom Frühstück ab, putze das Bad, in dem es noch nach ihrem leichten blumigen Parfüm riecht. Schaue in den Spiegel.“

Maike nutzte die Gelegenheit, um sich in einen – für sie ansonsten eher – nervigen Zeitgenossen hineinzuversetzen. Das führte zu ganz anderen Erkenntnissen über U-Bahnen und den Verrückten, die in ihnen reisen. „Seine Geliebten“ erhebt allerdings keinerlei Anspruch auf Wahrheit, die Geschichte ist jedeglich eine mögliche Variante. „... Es gab ja keine lebendigen Ansager mehr im Untergrund. Also war er jeden Tag unterwegs. Er kannte den gesamten U-Bahnplan. Auswendig. Jede Linie. Jeden Bahnhof. Jede Anschlussmöglichkeit. Jeglichen Pendel- und Ersatzverkehr. Neun Linien am Tag, sieben in der Nacht, 151 km Schiene. Tagsüber wurden 170 Bahnhöfe angefahren, nachts waren es 145. Ab vier Uhr früh bis kurz vor eins war er unterwegs – am Wochenende auch länger. ... Nachts war er manchmal ganz allein in einem Wagen. Dann streichelte er ihre Narben, die grausame Kinder in ihre Scheiben geritzt hatten, murmelte ihnen gute Worte zu. Sie verstanden ihn. Mochten auch seine laute Stimme. Durchdringend war sie, selbst in den überfüllten Waggons. Das musste sie auch sein. Die Leute unterhielten sich, lachten, manche schliefen, hatten Kopfhörer auf, telefonierten. Er musste zu ihnen durchkommen. Es tat ihm nur Leid, den Gesang seiner Geliebten zu übertönen. Jede hatte ihre eigene Melodie. Sie sangen für ihn. Und in den frühen Morgenstunden, wenn er ihr einziger Gast war, tanzte er für sie. ...“

Daniel widmete sich in „Der Vertrag“ einem typisch männlichen Problem: sich nicht festlegen können, insbesondere, wenn es um die Liebe geht. Beziehungen sind ja gut und schön, aber sich wirklich ernsthaft einlassen... "„Ich liebe dich“, hatte Eve gesagt und Peter dabei herausfordernd in die Augen gesehen. Dann wartete sie. Darauf, dass er die gleichen Worte zu ihr sagen würde, sie nicht wieder nur ‚ich dich auch’ zu hören bekäme. Er mochte sie sehr gern. Mehr als das. Er teilte seine kleine Wohnung mit ihr, er teilte fast schon sein Leben mit ihr. Er liebte sie. Er konnte es ihr nicht sagen. Es würde alles zerstören. Sie hatte sich im Bett aufgesetzt. Die Morgensonne fiel in Streifen auf ihren Körper. Er mochte die Art, wie sie ihr Haar trug, wie sie die Augen aufschlug, wenn sie etwas erbettelte, wie sie die Lippen schürzte, wenn sie ihm etwas befahl. Er mochte ihre Arme, wenn sie ihn trösteten. Er mochte ihre Hände, wenn sie ihn besänftigten. Er mochte sie. Von ganzem Herzen. „Ich dich auch“, sagte er, strich über ihre Hüften, ihre Schenkel. Sein Friedensangebot wurde abgelehnt. Sie rollte sich auf die andere Seite, setzte sich auf, schlang ihre Bettdecke um sich, als gäbe es jemanden, dem ihre Blöße vorenthalten werden müsste und ging ins Bad. Er lag auf dem Rücken, starrte an die Decke."

Regina nahm sich ein Beispiel an Gerd Brantenberg („Die Töchter Egalias“, 1977) und verdreht in „Die Leiden des Jungen M.“ unsere Welt und zeigt, wie anders es aussehen könnte. Schade eigentlich, dass solch ein Text seit den Siebzigern nichts an Aktualität verloren hat. „Martin träumte davon, zur See zu fahren. Seit er lesen konnte, verschlang er Geschichten von Seefahrerinnen und Piratinnen. Er hatte auch von Männern gelesen, die als Frauen verkleidet zur See gefahren waren. Natürlich wusste er, dass es heute nicht mehr so abenteuerlich zuging, aber die Vorstellung mit einem riesigen Schiff die Weltmeere zu durchkreuzen, fremde Länder zu sehen, faszinierte ihn sehr. Für ihn stand schon lange fest, dass er Kapitänin werden wollte. Vor seinem geistigen Auge sah er sich auf der Brücke eines Hochseedampfers stehen und über das weite Meer schauen. Eigentlich müsste es ja Kapitän heißen, ging es ihm durch den Kopf, schließlich war er ein Mann, zumindest bald. Heutzutage musste es doch möglich sein, auch als Mann diesen Beruf zu ergreifen. In der Zeitschrift ENNO seines Vaters hatte er gelesen, dass es auch schon männliche Pilotinnen gab und immer mehr Männer in den Handwerkerinnenberufen arbeiteten. Heute Abend wollte er es endlich seiner Familie sagen, denn bald stand die Entscheidung an, ob er die Schule beenden oder Abitur machen sollte. ...“

Ilja brachte zwei Geschichten mit und einen gewissen Hang zum Absurden. Zum Beweis lest einfach mal rein. „Eine Frau namens Basilea“ beginnt wie folgt: „Reiner stieg in das Taxi. „Zum Anhalter Bahnhof“, sagte er. „In Ordnung, zum Bahnhof Lichtenberg“, entgegnete der Fahrer. „Nein“, sagte Reiner, „Sie haben mich missverstanden. Ich möchte nicht zum Bahnhof Lichtenberg, ich möchte zum Anhalter Bahnhof.““ Schließlich gibt Reiner auf und geht in die nächste Kneipe. „Vom Kellner befragt, was er wünsche, bestellte Reiner ein Bier und einen Klaren. Der Kellner nahm die Bestellung auf und verschwand hinterm Tresen. Reiner wartete und wartete. Der Kellner tauchte hinterm Tresen nicht mehr auf. Reiner ging nachschauen: nix, kein Kellner, nur ein verwaister Tresen. Er bückte sich, holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Klaren und füllte ein Bierglas. Er trank einen ersten Schluck. Die Tür öffnete sich, und der Taxifahrer trat über die Schwelle. „ ’n Abend!“ brüllte der. „Ich will ’ne Bockwurst mit Kartoffelsalat und einen Eierlikör! Und das Ganze ein bisschen hurtig!“ „Wir haben geschlossene Gesellschaft heute“, entgegnete Reiner. „Ah, ja? Und wo ist die, wenn man mal fragen darf. Ich sehe hier keine Gesellschaft, weder eine geschlossene noch eine zugängliche ...“ In diesem Moment öffnete sich erneut die Tür, und eine Mädchenblaskapelle schneite herein. Die Mädchen hatten alle ihre Instrumente dabei. „Wenn man vom Teufel spricht“, sagte Reiner. „Und nun raus mit dir! Oder du kannst was erleben!““ Was das alle mit Basilea zu tun hat? Tja, wer da gewesen wäre...

In „Einer für Stalin“ gerät der Protagonist Matti in eine Zeitschleife. Dabei wünscht er sich doch nur, dass Beate, die Kneipenwirtin, ihm endlich mehr Aufmerksamkeit schenkt. „Vor der Kneipe wendete sich Matti nach rechts. Bis zur Bushaltestelle waren es nur ein paar Meter. Schwankend legte Matti die zurück. Eine ungeheure Traurigkeit packte ihn. Seit vielen Jahren saß er nun mehrere Abende in der Woche in Beates kleiner Kneipe, soff für Ostmark und Westmark und Euro, und nie hatte Beate zu ihm gesagt: „Ach, weißt du, Matti, bist zu besoffen, um nach Hause zu gehen. Bleib bei mir – ich wohne ja gleich gegenüber – und schlaf deinen Rausch aus. Morgen frühstücken wir, und dann, na ja, ich suche eigentlich schon lange jemanden, der mir in der Wirtschaft hilft ...“ Matti seufzte. Nie hatte Beate das zu ihm gesagt, sondern ihn immer nur abkassiert und von Feierabend gefaselt.“ Diesen Weg wird er in der Geschichte noch öfter zurücklegen, nebenbei geht es noch um ein verlassenes Bahngelände, auf dem angeblich Stalin spukt, aber vielleicht ist es auch nur eine alte Frau, die gekämmt werden möchte...

Stefan verließ für dieses Mal den menschlichen Blickwinkel. Mit der Geschichte „Aufenthalt“ begab er sich in einen Baum, der das menschliche Treiben aus seiner Sicht beobachtet: “Er hatte es gesehen. Genau, klar, deutlich. Das Herz. Es fehlte. Der Leichnam hatte so einen Blick. Wissend um seine Unvollständigkeit. In diesem Moment beiderseitiger Erkenntnis hielten sie Zwiesprache. Unhörbar für die Lagernden. Baum und Leichnam. Der Baum spürte, daß es nicht gut wäre, wenn die Trauernden von der Kontaktaufnahme wüssten. Die Leiche bestätigte dies. Sie würden beide schweigen, um des Überlebens willen.”

Vielen Dank an alle Autorinnen und Autoren! Wir warten mit Spannung auf den nächsten Freihafen im Mai (18.05.2004, Thema: Mist!). Wer vorher neue Geschichten hören will, kommt einfach zu einer der Lesungen vom Tintenschiff (Termine siehe Website). Bis demnächst also!