DIE URSUPPE

In der Videothek hatte sich nichts verändert. Noch immer war der Verkaufstresen winzig und die Luft im Laden zu warm.

„Hey, Sara, die lang Verschollene kehrt zurück!“, begrüßte Lars sie überschwänglich. „Und? Heiße Nächte im finnischen Eiswinter gehabt?“

„Hast du zu Hause niemanden, den du nerven kannst?“ Sara hatte nicht vor, ihrem Kollegen irgendwas von ihrem finnischen Abenteuer zu erzählen. Erleichtert beobachtete sie, wie die Tür hinter ihm zufiel. Im Laden herrschte Hochbetrieb, am begehrtesten waren Actionfilme und Romanzen.

Wie viel lieber würde sie mit ihren Händen über Auris Brüste streichen, statt die Tastatur der Kasse zu bearbeiten!

Um sich abzulenken, schloss sie mit sich selbst Wetten ab, welchen Film ein Kunde ausleihen würde. Ihre Wahl traf sie, sobald jemand drei Schritte in den Laden gemacht hatte. Denn jeder weitere Schritt verriet bereits, welches Regal das Ziel sein würde. Ihre Trefferquote lag bei 75 Prozent.

Nach elf begannen die zähen Stunden. Im Grunde mochte Sara die Friedhofsschichten. Sie ließen ihr Zeit, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Nur wollte sie heute nicht denken. Schon gar nicht an die letzten Momente mit Auri, am Flughafen. Die Versprechungen, sich bald wiederzusehen, hatten sie in einem langen Kuss erstickt. Zu blöd, dass es Zeitmaschinen nur in Filmen gab.

Um drei Uhr früh schloss sie die Tür des Ladens ab. Geschafft.

Sie kuschelte sich tiefer in ihre Lederjacke. Dorthin, wo es warm war. Auri würde es bestimmt nicht kalt finden. Im Gegensatz zum finnischen Winter, waren die Temperaturen hier geradezu frühlingshaft. Sara legte den Kopf in den Nacken, blickte hinauf zu den wenigen Sternen, denen es gelang, mit dem hellen Licht der Stadt zu konkurrieren. Was jetzt? Nach Hause? Sie fühlte sich hellwach.

Was hatte Auri gesagt? „Wenn du zurück bist, musst du unbedingt für mich in der Hafen Bar vorbeischauen.“ Die Adresse hatte sie auf die Rückseite einer Caférechnung gekritzelt. „Und bestell dem Barkeeper Grüße von mir.“

Das Papier war in ihrer Jackentasche, kitzelte ihre Fingerspitzen. Warum nicht?

Obwohl sie die Hafen Bar bequem zu Fuß erreichen konnte, hatte sie noch nie von ihr gehört. Die Tür war grau, unauffällig, wie das gesamte Haus. Sara zögerte kurz, dann stieß sie die Tür energisch auf. Sie quietschte.

Stille empfing sie. Bestimmt zehn Augenpaare starrten sie an. Zumindest soweit Sara das bei der spärlichen Beleuchtung ausmachen konnte. Fast wäre sie wieder gegangen. Aber die Tür schlug unsanft in ihren Rücken, ließ sie nach vorn stolpern. Sie hörte Gekicher, dann ein lautes Räuspern. Köpfe wandten sich von ihr ab, Stimmen wurden wieder laut. Sara atmete auf.

Mit zögernden Schritten ging sie bis zum äußersten Ende des schwarzen Tresens, der die gesamte Bar dominierte. Sie wollte sich nicht in die Nähe der Leute setzen, die sie eben noch ausgelacht hatten, nahm auf einem der Hocker Platz. Dann wusste sie nicht weiter, legte ihre Hände auf die Theke.

Dahinter stand der Barkeeper. Er trug eine Sonnenbrille und ignorierte sie. Er schnippelte irgendwas, warf es in einen Topf, der auf einer Elektroplatte hinter dem Tresen stand. Es roch gut, aber sie konnte nicht ausmachen, was dort kochte.

Sie blickte sich weiter um. Am anderen Ende des Raumes gab es zwei Türen. Über der einen stand „Toiletten“, über der anderen „Hinterzimmer“. Ob da gepokert wurde? Gewettet? Drogen verkauft? Wo war sie hier hingeraten? Und würde dieser Typ hinter seinem Tresen jemals zu ihr rüberschauen?

Sie versuchte, etwas von den Gesprächen an den Tischen zu verstehen, hörte aber nur einzelne Worte. Unruhig klopfte sie mit den Fingerknöcheln auf den Tresen. In aller Ruhe stellte der Barkeeper das Schneidebrett zur Seite, wischte mit einem gelben Lappen über die stählerne Arbeitsplatte. Dann erst wandte er sich ihr zu, sagte allerdings nichts, musterte sie nur mit schräg gelegtem Kopf. Sie hatte das Gefühl, geprüft zu werden, verknotete ihre Finger ineinander. Mit jeder Sekunde wurde ihr die Stille peinlicher.

„Ich soll Ihnen schöne Grüße von Auri aus Finnland bestellen.“, brachte sie schließlich hervor. Hoffentlich konnte sie ihn damit beeindrucken. Sie wusste nicht warum, aber es war ihr ungemein wichtig, hier zu bestehen.

Der Barkeeper kratzte sich mit dem Zeigefinger an seinem weit zurück liegenden Haaransatz. „Auri. So, so. Und Sie heißen?“

„Sara.“ Ein wenig mutiger geworden, fügte sie hinzu: „Woher kennen Sie Auri?“

Er ging nicht auf die Frage ein, nickte ihr zu. „Sehr erfreut.“ Er hörte auf, sich zu kratzen. „Was kann ich Ihnen anbieten?“

Sara entknotete ihre Finger. Neugier siegte über Verwunderung und Schüchternheit. „Was kochen Sie denn da?“ Sie deutete auf den Topf, in dem es brodelte und blubberte.

„Eine gute Wahl.“ Er schenkte etwas aus dem Topf in eine Schüssel, platzierte diese vor Sara auf dem Tresen. „Die Ursuppe“, verkündete er, reichte ihr einen Löffel. Dann blieb er vor ihr stehen, sah sie unverwandt an, schwieg.

Sara war sich bewusst, dass sie den Kerl zu jeder anderen Zeit unverschämt gefunden hätte. Aber gerade jetzt lenkte der Geruch der Suppe sie ab. Er weckte Erinnerungen. An Lagerfeuer. Wärme. Sommernächte. Zirpende Grillen, endlose Gespräche und leises Gelächter. Eine Melodie setzte sich in ihrem Kopf fest. Sie wollte sie mitsummen, traute sich aber nicht.

Sara nahm den Löffel auf und probierte.

Der Geschmack erinnerte sie an das tröstende Gefühl der Hühnersuppe, die sie als Kind bekommen hatte, wenn sie krank war. Aber diese Suppe schmeckte ungleich exotischer – ein Urlaub in unbekannter Ferne. Sie spürte ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Plötzlich war der Abschiedsschmerz weg. Sie fühlte, wie ihre Schultern sich lockerten. Laut summte sie die Melodie aus ihrer Erinnerung mit, störte sich nicht länger daran, ob jemand ihr zuhörte. Den Löffel legte sie erst weg, als die Schüssel leer und ihr Magen voll war.

Der Barkeeper grinste, wie eine zufriedene Katze, als er die Schüssel abwusch. Sara war versucht, sich nach den Zutaten zu erkundigen. Doch das Beantworten von Fragen schien nicht zu seinen großen Leidenschaften zu gehören.

Stattdessen beobachtete sie ihn, wie er sich über den Topf beugte, schnupperte. Er schob sich die Sonnenbrille hoch auf den Kopf. Langsam hob er eine Hand, tippte auf alle Fläschchen und Glasgefäße, die auf einem Brett über der Kochplatte standen. Schließlich nahm er drei davon, schüttete etwas von ihrem Inhalt in die Suppe, goß ein wenig Wasser nach. Wieder schnupperte er. Nickte. Mit dem Zeigefinger zog er die Brille zurück auf seine Nase.

In diesem Moment quietschte wieder eine Tür. Sara blickte zur Eingangstür, doch die war zu. Sie sah in die entgegengesetzte Richtung. Aus dem Hinterzimmer kam eine Frau, näherte sich dem Tresen. Dunkle Haare, noch dunklere Augen. „Einen großen Becher Kaffee. Schwarz. Stark.“ Sie schwang sich auf den Hocker neben Sara. Der Barkeeper stellte das Gewünschte vor ihr ab. „Isabelle, das ist Sara.“ Er zog sich zurück.

Die Fremde musterte sie. „Du bist also Sara.“

Die ganze Situation war seltsam, doch Sara fühlte sich gelassen. Neugierig sah sie die Frau neben sich an. „Kenne ich dich?“

„Nein. Aber vielleicht willst du das ja ändern.“ Sie blinzelte ihr zu.

Ein Handy klingelte. Es war Isabelles. „Entschuldige.“ Sie nahm das Gespräch an. „Ja?“ Ihre dunkle Stimme – eben noch so neckend - klang jetzt angespannt.

Sara beobachtete die Fremde in dem Spiegel, der hinter der Bar hing. Isabelle kratzte mit einem Fingernagel an einem Fleck auf dem Tresen. Aus dem, was sie hörte, schloss Sara auf Beziehungsprobleme. Aber wenigstens hatte Isabelle eine Beziehung. Schade eigentlich.

Worum es wohl ging? Ein Seitensprung? Unbegründete Eifersucht? Ihre Augen begegneten sich im Spiegel. Isabelle blinzelte ihr zu. Begründete Eifersucht?

Isabelle begann mit den Fingern ihrer linken Hand auf den Tresen zu trommeln. Sie war eindeutig genervt. Aber sie lächelte Sara weiterhin an.

Nach einem verärgerten „Chantal, so geht das nicht.“, bekam sie offensichtlich keine Antwort mehr, denn sie schüttelte ihren Kopf, schaltete ihr Handy aus. „Shit.“ Sie löste den Blick vom Spiegel, schaute Sara von der Seite an. „Lass dich bloß nie mit Heterofrauen ein.“ Sie lachte. „Entschuldige, ich nehme einfach an, dass du dich überhaupt mit Frauen...?“

„Deine Vermutung ist richtig.“ Sara fühlte sich selbstbewusst, wie sonst nie. Also sah sie Isabelle in die Augen. Braune Augen.

„Na, wenigstens in der Richtung funktionieren meine Instinkte noch.“

Trotz ihres guten Gefühl, fiel Sara nichts mehr, das sie hätte sagen können. Isabelle trank einen Schluck, ohne ihren Blick abzuwenden. „Und was machst du so? Ich darf doch fragen, nachdem du schon mein halbes Leben gehört hast?“

„Ich arbeite Nachtschichten in einer Videothek.“ Nicht mal diese schwachsinnige Antwort konnte sie heute beunruhigen. War da irgendeine Droge in der Suppe gewesen? Isabelles Stimme lenkte sie von diesen Überlegungen ab. „Hast du die Suppe schon probiert?“

Sara nickte. „Umwerfend gut.“

Der Barkeeper zog seine Sonnenbrille bis zur Nasenspitze vor, funkelte Isabelle an. „Du bekommst heute keine Suppe.“ Dann schob er die Brille wieder zurück, winkte einen Gast an den Tresen, damit der sich sein Bier abholte.

Sara schüttelte ihren Kopf. Was war an diesem Barkeeper, dass alle seine Art hinnahmen? Eine andere Frage bewegte sie jedoch stärker. „Weißt du, was in der Suppe drin ist?“

Isabelle zuckte mit den Schultern. „Das verrät er nicht. Ich glaube, er schmeißt alles rein, was übrig bleibt. Und dann verfügt er noch über irgendeine geheime Zutat, die alles verbindet und diesen unglaublich guten Geschmack hervorzaubert.“ Sie rückte ein wenig näher an Sara heran. „Du bist zum ersten Mal hier, oder?“

„Ja.“ Sara fühlte Isabelles Knie an ihrem eigenen. Die Berührung machte sie wagemutig. „Ich könnte noch eine Suppe bestellen und dich probieren lassen.“ Sie sprach leise, damit der Barkeeper sie nicht hörte. Außerdem gab es ihr einen Grund, sich ganz nah zu Isabelle beugen.

Auch Isabelle flüsterte. „Keine Chance. Man bekommt hier keinen Nachschlag.“ Ihr Atem kitzelte in Saras Ohr.

„Kann ich dich zu etwas anderem einladen?“ Sie hielt den Atem an, während sie auf eine Antwort wartete. Isabelle legte ihre Hand auf Saras. „Gern. Aber erst morgen. Ich muss jetzt los.“ Sie drückte Sara Hand. „Sagen wir morgen um die gleiche Zeit?“

Sara musste nicht lange überlegen. „Klar.“

„Bis dann also.“ Isabelle küsste sie schnell auf die Wange und ging.

Sara blickte ihr hinterher. War das gerade wirklich passiert – oder hatte sie die ganze Zeit träumend an diesem Tresen gesessen?

Der Barkeeper hüstelte. Sara schreckte auf und sah in grau-grüne Augen. Seine Sonnenbrille baumelte zwischen Zeigefinger und Daumen. „Besser, Sie lassen die Finger von der.“

„Wie bitte? Aber Sie haben uns doch vorgestellt.“

„Schon gut.“ Er positionierte die Sonnenbrille auf dem Zapfhahn. „Sie machen ja doch, was sie wollen.“ Er begann, den Tresen mit einem Lappen zu bearbeiten. „Und jetzt müssen Sie gehen.“

Sara fiel nichts dazu ein. Sie stand auf.

„Bis morgen“, rief er ihr hinterher.

Dann stand sie wieder draußen. Kalt war es immer noch. Aber über den Häusern wurde es hell.