Vom Hunger getrieben

"Finde die Liebe Deines Lebens www.partner.de Die Online-Partneragentur" stand in großen roten Buchstaben auf einem Plakat. Neben der Schrift war ein sich zum Küssen aufgestelltes Mann-Frau-Paar dargestellt. Auri war in tiefen Gedanken versunken. "Was könnte mit einer solchen brav aussehenden Frau geschehen, wenn sie Mundgeruch hat?", überlegte sie sich. Sie hätte fast Monas Rufe überhört, wäre da nicht ein Radfahrer zwischen ihr und dem Plakat gefahren, der sie ablenkte. Mona lief winkend auf sie zu.

"Hi Auri. Was schaust du da so verträumt? Ach die Glückmache-Agentur, vergiss es. Von einer Auri will keiner unter 70 etwas wissen", bemerkte sie, als ihr Blick die Straße überquerte.

"Hey, alte Hexe, wenn ich dich fange, verbrenne ich dich!" Auri griff mit beiden Händen in die Hüfte ihrer alten Schulfreundin, die sich kreischend davon machte. "Wo gehen wir heute hin?" rief Auri ihr hinterher. Heute war ihr beider Handyfreier Käffchen-Plaudern-Tag.

"Ich bin für die Enddorn-Kantine!" kam von einigen Metern weiter vorne, wo Mona angehalten hatte. Dieser Vorschlag wurde eher zurückhaltend wahrgenommen.

"Ich weiß schon. Du willst wieder diesen Kellner sehen, von dem du letztes Mal so geschwärmt hast. Ich konnte aber bis jetzt keinen erkennen. Keinen reizenden auf jeden Fall." Auri grinste von der Seite zu ihrer Freundin, die sich jedoch nicht so leicht aus dem Feld schlagen ließ.

"Geschmacksache, Schatz. Nicht jedes unartige Mädel steht auf Frauen." Ihr Gelächter blieb ihr im Hals stecken. Fast wäre sie über eine Katze gestolpert, die wie gestochen an ihr vorbei in eine enge Gasse schoss. Aus ihrer Überraschung wurde Neugierde. "Wo rennt denn diese Katze hin? Hast du das gesehen? Hier ist eine Gasse. Kennst du die?"

Auri hatte sich von hinten genähert und lehnte mit ihrem Kinn auf Monas Schulter. "Die sehe ich hier zum ersten Mal. Als ob die übernacht schnell angelegt wurde. Schau mal da, in der Mitte, ist das eine Terrasse?" Ohne sich weiter große Gedanken zu machen, schritten beide auf die aufgestellten Tische zu.

Von einer echten Terrasse war eigentlich wenig die Rede. Der Inhaber schien sich einfach ein Stück des Fußgängerweges angeeignet zu haben. Ein paar runde Tische mit etlichen Stühlen standen hier und da. Das Cafe selber lag ziemlich versteckt hinter einer unauffälligen Tür, die in fast erlöschten Farben den Namen "Hafen Bar" trug.

Mona sprudelte vor Neugierde. "Kennst du das hier? Das ist mir völlig neu." Ohne auf die Antwort zu warten, lief sie auf einen freien Tisch zu und schüttelte vor Zufriedenheit mit beiden Händen ihre blondierte Mähne nach hinten. Als ihre Freundin neben sie setzte, zündete Mona sich eine Zigarette an. "Das war ein Höllentag!". Darauf folgte eine ausführliche Beschreibung ihrer alltäglichen Marter, deren wichtigen Ereignisse mit tiefen Seufzern verstärkt wurden. Auri folgte gelassen den immer wieder hochflatternden Händen und den manchmal nach oben gedrehten Augen ihrer Nachbarin.

Diese versuchte aus ihrer Zuhörerin eine Gesprächspartnerin zu machen und ermunterte sie, an den Redeschwall teilzunehmen. Auri erwiderte kopfschüttelnd die Einladung mit einem Lächeln. "Heute ist mir nicht nach Reden. In einer Woche bin ich wieder in Finnland. Dann ist wieder Alltag in der Streichholzfabrik. Ich versuche die letzten Urlaubstage zu genießen."


"Dafür machst du aber eher einen traurigen Eindruck." Mona legte sanft ihre Hand auf Auris Knie und machte einen leidenden Blick.

"Nein, das bin ich nicht." Auri nahm die Hand und küsste sie leicht. "Nach zwei Monaten verrückten Lebens will ich die letzte Woche einfach ausklingen lassen. Du weißt doch: Das hier ist auch ein bisschen meine Heimat, selbst wenn nur aus Jugenderinnerungen."

"Komm, so ruhig kenne ich dich sonst nicht. Du bist bestimmt verliebt und willst es deiner Busenfreundin verheimlichen." Mona schmunzelte und lehnte sich über den Tisch, in der Hoffnung einige knusprige Details zu erhaschen.

"Gib dir keine Mühe. Die Erotik steht bei mir zur Zeit auf null." Auri spielte etwas träumerisch mit einigen der Ohrringe, die ihr rechtes Ohr schmückten, und fuhr dann neckisch fort. "Aber du scheinst mir ziemlich aufgeregt zu sein. Der Hormonpegel muss wahrscheinlich dringend wieder ausgeglichen werden, habe ich so den Eindruck." Beide kicherten und Mona bewegte sich nervös auf ihrem Stuhl. "O, da muss ich dir was erzählen", flüsterte sie hektisch. Mit glänzenden Augen blies sie kräftig etwas Zigarettenrauch aus und legte los.

Mitten in einem Satz über ein peinlich versagendes Deo stand ein Mann ungewissen Alters mit Dreitagebart und einer dunkelblauen Schürze vor dem Tisch. Er trug eine Sonnebrille und hielt ein Tablett in seiner linken Hand. "Die Kunden sitzen normalerweise drinnen." Sein Ton war tief und hatte etwas ironisches, klang dennoch freundlich. Dann fiel eine Stille. Er blieb vor den Mädels in einer auf einen Befehl wartenden Haltung stehen.

Beim erstarrten Blick ihrer Freundin auf den Kellner verstand Auri deren Notsituation und nahm das Wort. "Ich nehme einen Milchkaffee mit einem Glas Leitungswasser, bitte."

"Ja, ich auch." Mehr schaffte Mona nicht. Trotz der Bräune ihres Gesichts waren ihre Wangen rot. Ihr Blick blieb an dem Kellner haften, bis dieser mit der Bestellung in das Cafe verschwunden war. Dann holte sie tief Atem. "Hast du diese Stimme gehört? So etwas sanftes, samtiges, sagenhaftes habe ich noch nie gehört. Und diese grünen Augen?" Mit einem auf unendliche Ferne eingestellten Blick zündete sie genussvoll eine neue Zigarette an.

"Auf finnisch nennt man so eine Stimme 'rau'. Und grüne Augen durch eine Sonnenbrille?" Auris Busen schüttelte vor Lachen hin und her. "Manchmal möchte ich die Welt durch deine Augen sehen und mit deinen Ohren hören. Aber sag mal: Seit wann stehst du auf wortkarge Männer?"

Statt einer Antwort brach Mona in ein entsetztes Geschrei aus und schlug panikartig um sich herum, bis eine tote Wespe auf den Cafetisch fiel. Sie hob die kleine Leiche zwischen Daumen und Zeigefinger auf Augenhöhe. "Armes Ding. Eigentlich habe ich ganz viel Respekt vor diesen Viechern, weißt du?" Ihre Stimme klang ernst.

"Jetzt wirst du mir plötzlich ganz wehmütig." Mit einem Ellbogenstoß zu ihrer Freundin versuchte Auri die Stimmung wieder etwas aufzuhellen.

"Stell dir so ein Leben vor: immer auf der Suche nach Essen, immer verhasst, immer flüchten vor dem Tod und trotzdem so gut drauf sein, ohne jemals zu meckern. Die haben noch nicht mal ein Sexleben." Mona starrte nachdenklich auf ihr gestreiftes Opfer, das sie plötzlich über ihre Schulter warf, als sich Schritte näherten.

Der Kellner brachte die Getränke und bediente Mona als erste. Diese lächelte ihn freundlichst an. "Was ist mit den Tischen? Sollten wir eigentlich nicht draußen sitzen?" Sie hatte sich anscheinend regeneriert und wieder gut im Griff, dachte Auri. Wieder fitt, um in die Offensive zu treten, auf der Suche nach Kontakt, egal mit wem, Hauptsache Männer.

Der Kellner stellte Auris Milchkaffee samt Leitungswasser hin. "Die Stühle und Tische stehen hier nur zum Trocknen. Aber bei dem Wetter machen wir gern eine Ausnahme." Er sprach langsam. Hinter seiner Sonnenbrille vertieften sich die Falten um seine Augen wie Sonnenstrahlen.

Mona ließ nicht locker. "Gibt es euch schon lange? Ich meine... Hätten die Tische hier nicht gestanden, wären wir bestimmt an dem Cafe vorbei gegangen. Mir ist es früher noch nie aufgefallen."

Wie vorher kam die Antwort nach einer Spannungsgeladenen Stille mit der gleichen getragenen Träge. "Wir sind auch ganz bescheiden."

Inzwischen war auch Auri neugierig geworden aber Mona schien ihre Gedanken erraten zu haben und fuhr fort: "Seid ihr nur ein Cafe? Oder macht ihr auch so was wie... Restaurant oder Veranstaltungen?"

Der Kellner hielt das Tablett mit beiden Händen vor seiner dunkelblauen Schürze. Auf seinem Mund erschien ein Grinsen. "Jeden Tag bieten wir eine neu erfundene, hausgemachte Suppe, unsere tägliche Veranstaltung." Seine Finger trommelten kurz auf dem Tablett. Daraufhin kehrte er wieder in die Kneipe zurück.

Nach einer kurzen Weile ergriff Mona Auris Hand und legte diese auf ihr Herz. "Spürst du das? Das ist keine Unterzuckerung."

Auri streichelte dabei keck den ihr angebotenen Busen. Sie lehnte sich zurück und machte es sich bequem in ihrem Stuhl. Sie kannte diese lebensbejahende Stimmung ihrer Freundin. "Das hast du letztes Jahr schon von Lutz gesagt." Ihre schwarz betonten Augenbrauen hoben sich nonchalant.

"Was, welcher Lutz? Wer war das noch mal? Den ich beim Tanzen kennen gelernt hatte oder der mich im Schwimmbad angemacht hatte? Oder... Nein, du meinst doch nicht etwa den aus der U-Bahn? Der war doch volldoof. Der hätte nicht mal ein Tablett festhalten können." Vor lauter Lachen drückte Mona ihre Zigarette in dem Aschenbecher aus. Mit blinzelnden Augen zog sie Auri zu sich.

"Sag mal, bist du auch nicht etwas hungrig geworden?". Ihre Stimme war fast in ein Flüstern übergegangen.

"Du meinst, auf einen Teller hausgemachte Suppe?" Aus Monas strahlendem Gesicht wusste Auri, dass sie gleicher Meinung waren. "Aber diese hier schmeckt am Besten solo, glaube ich", fügte sie hinzu. Monas Gesicht verzog sich. Bevor sie den Mund öffnen konnte, hatte Auri ihren Finger darauf gelegt. "Du bleibst hier und ich gehe, verstanden? Bevor ich abfahre, telefonieren wir noch mal. Dann will ich alle Zutaten wissen." Sie machte Mona ein Augenzwinkern.

Dann beugte sie sich zu ihrer Freundin, um sich zu verabschieden. "Enttäusch mich nicht", flüsterte sie ihr zu. Als Antwort kicherte Mona wie ein kleines Mädchen und kniff die Augen zu. Auri sah, wie ihre Busenfreundin aus Spaß mit Händen und Füßen strampelte, als sie noch einmal mit dem Zeigefinger langsam Monas Busen umkreiste. Dann nahm sie ihre Sachen und ging fort. Sie schlenderte noch etwas durch die Straßen und wusste nicht genau, was sie nun tun sollte. Während sie ihr Handy wieder anschaltete, lief sie an einem Internetcafe vorbei. Eine Stunde im Netz mit DSL Qualität für nur 1 Euro. Das ist doch ein Angebot, dachte sie.

Auri suchte zuerst ihr virtuelles Postfach auf aber eMails gab es kaum. Gerade als sie ein bisschen herum googlen wollte, um die Zeit zu vertreiben, fiel ihr der www.parnter.de Link wieder ein. Für ein Profil holte sie einige Bilder von sich aus einer alten Mail. So surfte sie mühelos durch die Anmeldungsformalitäten und betrat schon rasch den Chatraum.

Die angemeldeten waren kräftig dabei, sich gegenseitig nach Gemeinsamkeiten zu befragen. Nach einer Weile Flirten und Spielen hörte Auri ihr Handy klingeln. Eine SMS von Mona. "Suppe: himmlisch, er: auch drinnen mit Sonnenbrille und wortkarg, ich: trotzdem fasziniert, und du? Suppen-Schmatz, Mona"

Die SMS zeigte ihre Wirkung. Auch Auri spürte nun einen leichten Hunger. Sie wollte sich gerade ausloggen, als eine Isabelle neu den Raum betrat. Sie sah sich ihr Profil an und war auf Anhieb Überzeugt. "Suche Frau für sinnliche Momente", meldete Isabelle. Der Hunger hatte inzwischen Auris Magen zum Knurren gebracht. "Wie wäre es mit einem Teller Suppe?" chattete sie Isabelle an. Die Antwort ließ nicht auf sich warten. "Wenn du mir nichts labberig-laues kochst, bin ich dabei." Die Erfolgstunde der Hafen Bar hatte geläutet, an dem Abend zumindest.

5.ix.'4

Sjoerd Ennel